„Ich hätte noch so unendlich viele Fragen, doch es ist niemand mehr da, der sie beantworten kann."
„Das einzige Kriterium wurde das eigene Gewissen“
Das Leben meiner Großtante steht in Umzugskartons verpackt in unserem Keller. Bücher und Dokumente türmen sich bis unter die Decke. Unterlagen quellen aus Ordnern und füllen ganze Regale. Seit ihrem Tod im vergangenen Jahr bewahren wir vieles, was von meiner Großtante Heide Liehl geblieben ist, in meinem Elternhaus auf.
An einem ungemütlichen Regentag stolpere ich mit einer gewissen Langeweile in das vollgestopfte Zimmer hinein. Ich will einmal hineinsehen in all die Kartons, die sich hier stapeln. Denn dieser Raum steckt voller Geschichte.
Meine Großtante hat die Arbeit meiner Urgroßeltern und weiterer Familienmitglieder fortgeführt und eine breite Familienchronik auf die Beine gestellt. In einem Karton finde ich mehrere Bände, die sich rund um den zweiten Weltkrieg drehen. Es sind die Kriegstagebücher meines Urgroßvaters Ekkehard Liehl, die meine Großtante mühevoll und fein säuberlich abgetippt und mit zahlreichen Quellen verglichen hat. Ihre Ergebnisse hat sie auf hunderten Seiten gesammelt. Interessiert schlage ich diese Bücher über das Schicksal von „Ekke“ auf.
Was erwartet mich hier wohl? Die ersten Zeilen stammen aus der Feder meiner Großtante: „Ich hätte noch so unendlich viele Fragen, doch es ist niemand mehr da, der sie beantworten kann, es bleiben nur die folgenden Aufzeichnungen.“
Wie ich von meinen Verwandten erfahre, hat mein Urgroßvater mit ihnen nie über den Krieg gesprochen. Seine Kinder haben einige Seiten ihres Vaters erst in den Kriegstagebüchern entdeckt. Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sie ihren Vater nur so, wie er nach dem Krieg war – ein liebevoller Familienvater und ein Naturschützer. In Erinnerung bleiben seine zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge über den Schwarzwald und seine Natur. Ekkehard setzte sich gegen den Bau einer Autobahn quer durch den Schwarzwald ein. Doch seine Kriegsgeschichte blieb sein großes Geheimnis.
Das Schweigen nach dem Krieg war ein in ganz Deutschland auftretendes Phänomen. Eine ganze Generation schluckte die eigenen Traumata hinunter und versuchte einfach weiterzuleben.
Mit dem abgetippten Kriegstagebuch in der Hand setze ich mich auf einen Karton und blättere durch die Seiten. Ich will wissen, was mein Urgroßvater erlebt hat. Ich will wissen, was ihn angetrieben hat.
Mein Urgroßvater Ekkehard wurde im Krieg zuerst als Gefreiter im Infanterie-Regiment 215 an der Ostfront eingesetzt. Als Schütze an einem schweren Maschinengewehr war er Teil der Operation Barbarossa, dem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion. Gegen Ende des Krieges wurde er an die Westfront geschickt, wo er dann in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet.
Was war das Unternehmen Barbarossa?
Das Unternehmen Barbarossa (oder Operation Barbarossa) war der Deckname für den Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg. Am 22. Juni 1941 schickte das NS-Regime mehr als drei Millionen Soldaten über die Grenze und startete damit einen beispiellosen Vernichtungskrieg. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 verloren im deutsch-sowjetischen Krieg auf sowjetischer Seite bis zu 27 Millionen Menschen ihr Leben. Auf deutscher Seite starben zwischen sechs und sieben Millionen Menschen.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Zwischen den Seiten finde ich einen Brief. Die Schrift kann ich kaum entziffern, doch glücklicherweise hat meine Großtante auch diese Zeilen abgetippt.
Feldpostbrief Nummer 143: „Sonne, Sonne und immerzu Sonne und dazu ein Staub, dass man oft buchstäblich seinen Vordermann nicht mehr sehen kann. Oft erst bei Dunkelheit finden wir einen Zeltraum und beim Tageslicht werden die Zelte wieder abgerissen und die Pferde aufgeschirrt. Hinter uns sind wohl nach unserer Waldarbeit keine größeren russischen Truppenteile. Einzelne Russen sind uns wohl entgangen. Die hocken in Kellerlöchern und wer weiß wo drin. Vor ein paar Tagen holten wir gerade Stroh fürs Zelt. Dabei guckte ein Kamerad in so’n Kellerloch hinunter. Zwei Pistolenschüsse gingen unmittelbar an seinem Ohr vorbei.“
Was er mit Waldarbeit meint, möchte ich mir gar nicht genau vorstellen. Diesen Brief schreibt Ekkehard an seine Frau Annaliese, die in Braunschweig auf die Kinder aufpassen muss. Wie es ihr wohl erging, wenn sie solche Zeilen lesen musste? Sie sitzt alleine mit den gemeinsamen Kindern zu Hause und kriegt einen Brief, in dem ihr Ehemann lebensgefährliche und brutale Kriegserlebnisse schildert.
Die Schrecken des Krieges
Mit scheinbar endlos langen Märschen in Richtung Osten, ohne große Gegenwehr der Russen – so begann der Krieg für Ekkehard. Doch in der Nähe der Stadt Jelnja, die etwa 50 Kilometer südöstlich von Smolensk liegt, kam der Feldzug zum Erliegen.
„Wir stehen im Schlamm bis an die Knöchel und starren ins Schwarze. Grausam langsam wird es Tag, unerträglich lange ist die Spannung der Dämmerung, in der das brennende Auge von allerlei Spukgestalten genarrt wird. Die im Winde leise sich wiegende Kleeblume 80cm vor dem Graben wird zum Russen, der in 20 Metern Entfernung heran kriecht. Auch nach rückwärts ist keine Menschenseele, keine einzige Bewegung, nicht einmal ein Vogel zu erkennen. Die ‚Leere des Schlachtfeldes‘ greift uns mit ihrer grausamen Einsamkeit kalt ans Herz.“
Die Schrecken des Krieges werden in seinen Aufzeichnungen deutlich spürbar. Beim Lesen läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Es ist Zeit für eine kurze Lesepause. Ich öffne eine weitere Kiste und entdecke seine Erkennungsmarke, ein deutsch-russisches Soldatenwörterbuch und originale Landkarten. Ich frage mich: Beeinflusst so ein Krieg nicht auch die eigene Persönlichkeit?
Die Psychologin Eva Asselmann bestätigt meine Vermutung: „Die eigene Identität wird durch genetische Einflüsse, aber auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. Es ist immer ein Zusammenspiel von beidem. Kriegsjahre können dabei besonders prägend sein.“
Ekkehard denkt zu dieser Zeit scheinbar viel nach. Die Tagebucheinträge sind sehr lang und zum Teil sehr philosophisch formuliert. Teilweise zweifelt er am Krieg und fragt sich, warum er eigentlich an der Front steht und kämpft.
„Immer wieder stellt die Unmittelbarkeit des Todes die Frage nach dem Sinn des Kampfes und den Grundlagen der Haltung. Oft denke ich, was wohl den anderen, den jungen, unverheirateten vorschwebt, wenn die Frage ‚wofür‘ immer wieder fordernd an sie gestellt wird und eine greifbarere Antwort verlangt als einfach das Wort ‚Vaterland‘.“
Doch für ihn ist klar: Sein Vaterland lässt er nicht im Stich. Er hat als Soldat einen Eid abgelegt und diesen kann er nicht brechen. So wurde er erzogen. Aber er glaubt auch für etwas weit Konkreteres zu kämpfen, nämlich seine Familie.
„Der Soldat sieht sein Vaterland verkörpert in seiner heimatlichen Landschaft, in seinen Eltern und Kindern. Er hängt es auf im Spind und jetzt zieht er es immer wieder heraus aus seiner Brieftasche oder aus seinem Soldbuch, wenn er in seinem Loch drin liegt und dem Wummern und Pfeifen zuhört.“
Kämpfen für die Kameradschaft und das Vaterland?
Es tut ihm gut, etwas zu haben, wofür er kämpft. Er glaubt für seine Werte einzustehen. Für Kameradschaft, Vaterlandsliebe und Treue. Begriffe, die die damalige Propaganda prägten. Während er an der Front für sein Vaterland kämpft, kämpft seine Frau zu Hause darum, ihren Kindern genug zu essen auf den Tisch zu bringen. Als sich die Möglichkeit ergibt, ihn mit einem Antrag als einziger Sohn eines gefallenen Soldaten aus dem ersten Weltkrieg zurück in die Heimat zu holen, ergreift Annaliese diese. Ekkehard akzeptiert diesen Antrag, kehrt allerdings eher widerwillig zurück.
„Ich kann den Antrag nicht befürworten, aber ich werde ihm nichts in den Weg legen, sondern die Entscheidung allein der Kompanie überlassen“, schreibt er in seinem Tagebuch. „Gegen alle Gründe der Vernunft steht die Forderung der Kameradschaft.“
Nach einiger Zeit in der Heimat meldet er sich jedoch freiwillig, um wieder an der Front zu kämpfen. Für mich ist das eine völlig unverständliche Entscheidung. Auch meine Großtante konnte diese Entscheidung nicht nachvollziehen. Neben den Schilderungen aus Ekkehards Kriegstagebuch findet sich ein Kommentar, den sie lange nach dem Krieg verfasste:
„Da sie zu Hause keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten haben, trösten sie sich mit dem seltsamen Argument, sie ständen für ihre Frauen und Kinder im Kampf, hauen drauf und fühlen sich in gewissen Rahmen auch noch wohl und so männlich dabei! Ihnen verschafft das Wir-Gefühl, die vielgerühmte Kameradschaft, einen mächtigen Rückhalt und die Verantwortung für die ganze Misere nimmt ihnen immer noch ein Vorgesetzter ab. Den Frauen zu Hause dagegen nimmt niemand die Verantwortung ab. Sie können sich auch nicht mit einem Wir-Gefühl stärken, sie müssen allein für die unmündigen Kinder, Alten und Kranken geradestehen und sehen, wie sie sie durchbringen.“
„Werte müssen immer im historischen Kontext betrachtet werden“
Doch für Ekkehard, der am Ende der Kaiserzeit geboren wurde, gab es keine andere Wahl. In der Heimat plagte ihn das schlechte Gewissen und die Scham, ein „Feigling“ zu sein. Also zog er wieder in den Krieg für Deutschland.
Diese Entscheidung beruht auf Werten, die in der heutigen Zeit nicht mehr eine so große Rolle in der Gesellschaft einnehmen wie damals. Doch: „Werte müssen immer im historischen Kontext betrachtet werden“, erklärt Asselmann.
Denn Werte wie die Vaterlandsliebe sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes. Doch die Deutschen kämpften im Zweiten Weltkrieg nicht nur für das Vaterland: Sie kämpften und töteten auch, weil sie sich stärker fühlten. Als überlegene und bessere Menschen. Diese Idee, dass andere Menschen weniger wert sind als das eigene Selbst, ist für mich unbegreiflich.
Doch dieses Überlegenheitsgefühl hatte sich durch die Propaganda und den Zeitgeist in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Es sorgte dafür, dass die Soldaten an der Front brutale Verbrechen begingen, ohne über sich selbst zu erschrecken und sich schuldig zu fühlen. Erst nach dem Krieg reflektierten einige Menschen, welcher Schaden im Namen von „Werten“ wie Vaterlandsliebe begangen wurden. Andere reflektierten ihre Taten nie. Mein Urgroßvater hat sich nach seinen Erfahrungen aus der NS-Zeit geschworen, nicht mehr zu schweigen, wenn Dinge geschehen, die er nicht in Ordnung findet.
Damit es zu einem solchen Überlegenheitsgefühl im Namen der Vaterlandsliebe und der daraus folgenden Kriegseuphorie nie wieder kommen kann, geht es heute viel mehr um das kritische Denken, das Hinterfragen und das eigene Gewissen. „Es ist immer hilfreich, wenn man eine kritische Haltung einnimmt“, findet Asselmann. „Heutzutage kommt es im Schulsystem viel mehr darauf an, Kindern beizubringen, dass sie eigenständig denken und Dinge hinterfragen, als früher.“
Die Stunde null
Die Generation meiner Großtante musste in diese neue Welt erst hineinwachsen. Es gab eine Stunde null, in der die Werte der Elterngeneration nicht mehr galten. Vaterlandsliebe, Kameradschaft und Treue: Die Generation meiner Großtante musste jeden einzelnen Wert neu bewerten. „Wir wuchsen in eine völlig neue, demokratische Gesellschaft. Sämtliche Werte mussten unter dem Eindruck der vergangenen letzten zehn Jahre hinterfragt werden und verloren ihre Absolutheit“, schreibt sie in ihrem Vorwort. „Das einzige Kriterium wurde das eigene Gewissen.“
Hat mein Urgroßvater seine Werte abgelegt oder neue entwickelt? Ich weiß es nicht. Vielleicht wurde das Schweigen in der Familie durch den Wertekonflikt zwischen den Generationen ausgelöst.
Ich schlage das Kriegstagebuch zu und denke darüber nach, was ich gerade alles gelesen habe. Das Schweigen wurde inzwischen gebrochen. In meinen Händen halte ich hunderte Seiten, die über diesen Wertekonflikt berichten. Die Werte, die ich heute auslebe, haben sich über Generationen hinweg geformt. Sie wurden mir teilweise vererbt und anerzogen. Doch auch meine heutige Umwelt beeinflusst mein Denken. Ich bin froh, dass die Generation meiner Großtante das kritische Denken und Hinterfragen an die Generation nach ihnen weitergegeben hat.