30 Grad, mitten in der Betonwüste am Stuttgarter Charlottenplatz. Friedemann Rincke und ich sitzen in einem modernen, weißen Raum im Erdgeschoss des alten Gebäudes, dem „Seminarraum 1“. Er erzählt mir von der Geschichte des ehemaligen Hotels und von den Verbrechen, die hier begangen wurden.
Das „Hotel Silber“
1874 kaufte Heinrich Silber dieses Gebäude, das damals noch ein Gasthaus war. Er ließ es ausbauen, erweitern und benannte es in „Hotel Silber“ um. Heute erinnert ein großes Foto der ehemaligen Eingangshalle an pompöse Zeiten des Hotels. Hier nächtigte die gehobene Gesellschaft, die „High Society“. Auf dem Foto erkenne ich die Treppe, die heute noch vorhanden ist und genutzt wird. Von der restlichen Einrichtung ist heute nichts mehr wie auf dem Foto. Mit einer Ausnahme: Selbst damals (um 1900) war links neben der Treppe bereits ein Aufzug.
Vom alten Gemäuer sind nur noch an vereinzelten Stellen ein paar Fragmente zu sehen, wie der Stuck im Seminarraum 1, der früher einmal das Frühstückszimmer war. Das restliche Gebäude wirkt sehr modern, mit cremefarbenen Wänden, hohen Decken und großen Glastüren. Man würde gerne von einem schönen Gebäude sprechen, wäre da nicht die allgegenwärtige Erinnerung an das, was in diesem „Hotel“ getan wurde.
Vom Hotel zur Polizeizentrale
Anfang des 20. Jahrhunderts verkaufte der damalige Besitzer Heinrich Stapff das „Hotel Silber“ an die Staatsfinanzverwaltung. 1928 zog das Stuttgarter Polizeipräsidium hier ein. Seit 2018 ist es ein offizieller Erinnerungsort und Rincke einer der Kurator*innen.
Rincke führt mich in den ersten Stock. Dort betreten wir den Flur, an den rechts und links die einzelnen Zimmer angrenzen. Einst waren dies die Gästezimmer, später die Büros der Polizeibeamt*innen. Heute befindet sich dort die Ausstellung über das „Hotel Silber“, das seinen Namen in all den Jahren nie verlor.
Durch den Flur kommt man heute nur noch in das erste Zimmer auf der rechten Seite, dort beginnt die Ausstellung, die sich durch die übrigen Räume zieht. Der restliche Flur wird durch fünf beleuchtete Bodenwellen blockiert, eine nach jeder Tür. Wir stehen am Anfang dieses Flurs. Von hier aus ergibt sich, über die Bodenwellen verteilt, das Bild eines Mannes im Anzug. „Ein Abteilungsleiter“, wie mir Rincke erklärt. Das Bild ist bei näherem Hinsehen ein Mosaik aus vielen einzelnen Portraits. Manche schauen sehr freundlich in die Kamera, andere wiederum sehr ernst. Ganz unten, quasi in der ersten Reihe auf der ersten Bodenwelle, ist ein Mann zu sehen, der mir bekannt vorkommt. Es handelt sich um ein Foto von Wilhelm Boger, einem Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) aus Zuffenhausen, auch bekannt als die „Bestie von Auschwitz“.
Die Ausstellung befasst sich in chronologischer Reihenfolge mit fünf Jahrzehnten Polizeigeschichte, die in diesem Gebäude stattfanden. Angefangen mit dem Einzug der württembergischen Politischen Polizei im Jahr 1928, die in der Weimarer Republik für die Bekämpfung von politisch motivierten Straftaten zuständig war und 1936 in Gestapo umbenannt wurde. Bis hin zur Kriminalpolizei, die nach dem Zweiten Weltkrieg hier einzog.
Unterschätzte Bedrohung
An der Wand im ersten Zimmer stehen in großen Buchstaben einer veralteten Schriftart Schlagzeilen aus den Jahren 1930 und 1931. „Nazizellen bei der Polizei“ ist eine davon, „Sozizellen in der Polizei“ eine andere. Davor steht ein Tisch mit einem Ordner. Darin enthalten sind geheime Berichte, verfasst von der Politischen Polizei. Beim Lesen dieser Berichte fällt mir auf, dass die Politische Polizei in den Jahren von 1928 bis 1933 vor allem die Kommunist*innen als Feinde des Landes sah. Die Nationalsozialist*innen werden zwar immer wieder erwähnt, aber gleichzeitig auch maßlos unterschätzt. Das lag vor allem daran, dass die NSDAP damals noch eine kleine Splitterpartei war, wie mir Rincke erklärt: „In der modernen Berichterstattung würde die NSDAP zu der Zeit unter ‚Sonstige‘ laufen“.
An der Wand zum Flur hin zieht sich durch die ganze Ausstellung ein schwarzer, breiter Zeitstrahl. Schon im ersten Raum stößt man nach wenigen Metern auf das Jahr 1933 und damit die Machtübernahme der NSDAP.
Neustrukturierung unter Hitler
Ein Schaubild auf dem Zeitstrahl zeigt, wie sich das Personal der Politischen Polizei unter Hitler veränderte. Etwa ein Drittel der ehemaligen Belegschaft wurde zwar in diesem Jahr entlassen oder versetzt, trotzdem verdreifachte sich das Personal innerhalb weniger Wochen. Viele kamen von der Kriminalpolizei hinzu, andere von der Schutzpolizei, aber auch einige arbeitslose SS-Männer wurden als „Hilfspolizeibeamte“ angestellt. Laut Rincke sahen die neuen Machthaber in der Politischen Polizei ein mächtiges Instrument dafür, ihre Macht zu festigen und ihre politischen Gegner zu unterdrücken. Einer dieser Quereinsteiger war Wilhelm Boger.
Im dritten Raum zeigt Rincke mir auf dem schwarzen Zeitstrahl ein Dokument der Politischen Polizei von 1936. Oben links ist die Angabe „württembergisches Politisches Landespolizeiamt“ nachträglich durchgestrichen und durch „Geheime Staatspolizei“ ersetzt worden. Im Zuge der Zentralisierung der Polizei wurde ihr Name geändert. Laut Rincke handelt es sich dabei jedoch lediglich um einen „Etikettenwechsel“, denn „Personal, Methoden und Zielsetzung blieben gleich“.
Zentrale des Terrors
Hier, im „Hotel Silber“, hatte die Gestapo – wie sie von nun an hieß – ihre Zentrale für Württemberg und Hohenzollern. In den Räumen, durch die ich laufe, wurden unter anderem Deportationen geplant und koordiniert, die Bevölkerung überwacht und eingeschüchtert und die politische Opposition unterdrückt. Außerdem wurden hier Verdächtige verhört und gefoltert.
Ein beträchtlicher Teil des Gestapo-Personals wurde während des Krieges eine Zeit lang in die besetzten Gebiete versetzt. „Für einen Gestapo-Beamten eine ganz normale Station seiner Laufbahn“, so Rincke. Das bedeutet, dass das Personal der Gestapo dort „unmittelbar“ an den Verbrechen beteiligt war, „also auch am Völkermord in Ost-Europa“.
Nachkriegsnarrative
Nach 1945 sei eine sehr spezielle Geschichte erzählt worden, meint Rincke. Quasi ohne Ausnahmen sei dann behauptet worden, „dass diese Menschen das eigentlich nicht gewollt hätten und dem Ganzen innerlich distanziert gewesen wären“. Ein Kindertagebuch im fünften Raum belegt jedoch, dass das so nicht stimmt. Irene Hagenlocher schrieb darin für ihre Tochter Ingrid Bemerkenswertes aus dem Alltag der Familie auf. Der aufgeschlagene Eintrag stammt aus dem März 1943, kurz nachdem der Vater der Familie, Gestapo-Mitarbeiter Alfred Hagenlocher, nach Russland abkommandiert wurde, um am Einsatzkommando 8 teilzunehmen. „Damit ist deinem Vati ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen“, schreibt Irene Hagenlocher. Das Einsatzkommando 8 ermordete mehr als 20.000 Männer, Frauen und Kinder. Es war bereits 1943, Hagenlocher habe als Gestapo-Mitarbeiter genau gewusst, was dort auf ihn zukommt. Und er habe sich darauf gefreut, meint Rincke. Auf die Wand gegenüber ist ein Bild gedruckt, das ein offenes Massengrab in der Nähe von Riga zeigt. Unter den Toten befinden sich fast 1.000 jüdische Deutsche aus Württemberg, die von der Stuttgarter Gestapo deportiert wurden.
Bild des Bösen
Wenn ich an die Menschen denke, die während des Nationalsozialismus schreckliche Verbrechen begangen haben, dann denke ich an Menschen wie Wilhelm Boger. Menschen, die das Böse verkörpern und mit denen man keinerlei Gemeinsamkeiten haben will. Und dann denke ich an die Menschen, die hinterher behauptet haben, dass sie das alles immer ganz furchtbar fanden und nur ihre Befehle ausführten, aus Angst um ihr eigenes Leben und das ihrer Familie. Aber so einfach ist das nicht. Rincke weist mich darauf hin, dass es viel einfacher sei, das Böse einem Sadisten zuzuschreiben. Doch die Tatsache, dass 99,9 Prozent der Menschen, die im nationalsozialistischen System arbeiteten, ganz normale, nette Nachbarn waren, mit denen man gut auskam und deren Ansichten man weitgehend teilte, sei viel unangenehmer zu erwähnen.
Wir gehen weiter durch die Räume, ich sehe Bilder von Deportationen, die hier in der Nähe stattgefunden haben, und ein Stück Stacheldraht aus dem Arbeitserziehungslager Oberndorf-Aistaig. Hier inhaftierte die Gestapo insgesamt über 4.000 Männer.
Letzte Verbrechen
In einem der letzten Räume zeigt mir Rincke ein zunächst unscheinbares Foto der Familie Josenhans. Es zeigt die aus einer jüdischen Familie stammende Else Josenhans, ihren Ehemann Wilhelm und die Töchter Annemarie und Lieselotte. Wenige Monate vor Kriegsende – im Februar 1945 – erhielt Else Josenhans ein Schreiben von der Gestapo, das neben dem Familienfoto liegt. Darin wird sie aufgefordert, sich für einen „ausländischen Arbeitseinsatz“ im Durchgangslager Bietigheim einzufinden. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wurde die Familie getrennt voneinander ins „Hotel Silber“ gebracht. Ihr Mann Wilhelm und die Töchter wurden nach einigen Wochen entlassen. Erst später erfuhren sie, dass Else Josenhans am 10. April 1945, vier Wochen vor Kriegsende, im Keller des ehemaligen Hotels erhängt worden war.
Nachdem wir uns verabschiedet haben, gehe ich in eben diesen Keller. Wo damals unter anderem Else Josenhans ermordet wurde, sind heute Schließfächer für die Besuchenden untergebracht. Die kühle, moderne Architektur des Gebäudes erscheint mir gerade hier unten wie ein krasser Gegensatz zu den schrecklichen Verbrechen, die während des Nationalsozialismus begangen wurden. Die Führung durch das „Hotel Silber“ zeigt mir, dass das Böse nicht immer in einer monströsen Gestalt daherkommt. Es sind auch normale Menschen aus der Nachbarschaft, die unter Umständen zu solchen Verbrechen bereit wären. Deshalb ist das „Hotel Silber“ aus meiner Sicht nicht nur ein Ort der Erinnerung, sondern auch eine Mahnung, wachsam zu bleiben und sich aktiv für eine Gesellschaft einzusetzen, die sich solchen Verbrechen niemals wieder verschließt.
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Alle Bilder wurden vom Autor selbst aufgenommen.