„Das Ziel ist die Selbstständigkeit. Also selbst und ständig für sich zu sorgen. Unser Job ist es, sie zu empowern.“
Auszug aus der Jugendhilfe
Jamie steht verloren und einsam in ihrem neuen Zuhause. Umzugskartons und kahle Wände umgeben sie. Erst Minuten zuvor hat ihre Betreuerin sie abgesetzt. „Nimm mich mit“, hätte Jamie am liebsten gesagt. „Ich will zurück.“ Sie weiß aber sehr wohl: sie wird nie wieder zurückziehen oder den Alltag in ihrer alten Gruppe haben. „Das ist dann alles auf einmal weg“, sagt sie. „Es war komisch, an diesem neuen Ort zu sein.“
Jamie wohnte im betreuten Wohnen einer Jugendhilfeeinrichtung. Sie teilte sich innerhalb der Einrichtung eine Wohnung mit anderen Mitbewohner*innen. Jetzt lebt sie alleine im betreuten Einzelwohnen. Einen direkten Bezugspunkt zu den Betreuenden hat sie im Alltag nicht mehr. Sie hat nur wöchentliche Beratungstermine mit ihnen. Das eigenständige Wohnen fühlt sich erst mal überwältigend an. Dabei ist das nicht die erste Herausforderung, der sich Jamie stellt. Sie geht auf eine Fernschule, holt ihr Abitur nach und engagiert sich ehrenamtlich. Zuvor arbeitete sie im Landesheimrat Hessen, einem Gremium, das Kinder und Jugendliche aus der stationären Jugendhilfe repräsentiert. Deshalb weiß sie auch, dass viele Herausforderungen mit dem Auszug kommen.
Jamie ist eine von wenigen, die noch mit 23 Jahren in der Jugendhilfe wohnen können. Grund dafür ist ihre psychische Diagnose. Mit 17 Jahren kamen ihre Mutter und sie deswegen ins Gespräch mit dem Jugendamt. Die Entscheidung fiel. Jamie kam in einer Jugendhilfeeinrichtung unter, die auf junge Erwachsenen zugeschnitten ist. In der Regel ist der Auszug für Jugendliche aber auf 18 Jahre angesetzt.
Laut einer Studie des Statistischen Bundesamts lebten im Jahr 2021 über 122.659 Jugendliche und Kinder in der Heimerziehung oder einer sonstigen betreuten Wohnform.
Careleaver und Carereceiver
Unter "Carereceivern" versteht man Jugendliche, die sich noch in der stationären Jugendhilfe befinden; sie erhalten momentan Hilfe. Sobald sie die Jugendhilfe verlassen, gelten sie lebenslang als "Careleaver".
Jamie ist Carereceiverin. Das betreute Einzelwohnen ist ihr letztes Angebot der Jugendhilfe. Nachdem Careleaver die Jugendhilfe verlassen, ändern sich ihre Lebensumstände. Die Sozialpädagogin Hannah Leidenberger engagiert sich deshalb mit Teamkolleg*innen für ein Careleaving Projekt innerhalb einer Jugendhilfeeinrichtung. Sie organisieren Treffen, damit sich die Carereceiver und Careleaver untereinander austauschen und Hilfe bekommen können. „Der Übergang in die Anschlusshilfen kann ein sehr schwieriger Schritt für die jungen Erwachsenen sein“, erklärt die Sozialpädagogin. „Da ist mein gewohntes Umfeld, das sind meine Betreuer, die waren für mich da. Und plötzlich sind sie das nicht mehr.“
Der Heimalltag
Die Bezeichnung Jugendheim wird vom Fachpersonal selten verwendet. Da die meisten negative Vorstellungen von dem Wort haben, sprechen die Jugendlichen und das Fachpersonal von Jugendhilfeeinrichtungen. Die Jugendlichen kommen mit persönlichen Themen in die Jugendhilfe, die sie belasten und begleiten. Trotzdem haben sie auch im Jugendwohnen einen normalen Alltag mit fester Struktur. Sie besuchen die Schule, arbeiten, machen Ausbildungen oder bewerben sich für das zukünftige Studium. Sie erledigen Aufgaben im Haushalt, lachen und streiten miteinander. Die Betreuenden unterstützen sie bei ihren Anliegen und Problemen.
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Kann Jugendwohnen Selbstständigkeit lehren?
In Verselbstständigungsgruppen werden Jugendliche langsam an das Erwachsenwerden gewöhnt. Betreuende stehen ihnen zur Seite und organisieren Arzttermine und Gesundheitsvorsorgen. Sie beraten bei allen Anliegen und zeigen den jungen Menschen, wie man den Haushalt führt. Der Fokus liegt auf Finanzen, Gesundheitsversorgungen und dem Bewusstsein dafür, was einem gut tut. Dabei spielen unter anderem die Stichworte Drogen und Alkohol eine Rolle. Die Betreuenden helfen zudem bei Amtsgängen und unterstützen bei Identitätsfragen.
Lilian Leddin ist Sozialpädagogin und Fachbereichsleiterin einer Jugendhilfeeinrichtung. In ihrer Berufslaufbahn hat sie schon viele Kinder und Jugendliche begleitet. „Ich glaube, wenn man in der Phase des Erwachsenenwerden nicht im Elternhaus lebt, stellt man seine Wurzeln, seine Biografie anders in Frage, als Jugendliche, die zuhause leben“, berichtet Leddin. Die Jugendlichen sollen nicht in Abhängigkeit von der Jugendhilfe oder ihrer Familie leben. „Das Ziel ist die Selbstständigkeit. Also selbst und ständig für sich zu sorgen“, sagt sie. „Unser Job ist es, sie zu empowern.“
Neues Umfeld, neue Herausforderungen
Nach dem Auszug gibt es keine einheitlichen Anlaufstellen speziell für Careleaver. „Das ist eine ganz wichtige Arbeit, die noch nicht präsent genug ist, an der wir aber arbeiten“, erklärt die Fachbereichsleiterin Leddin. „Es ist natürlich in unserem Interesse, dass die Kinder nicht von einer Sozialhilfe in die nächste rutschen.“ Deshalb sollen Paragraphen des Sozialgesetzbuches in speziellen Fällen weiterhelfen.
Auch das Fachpersonal von Jugendhilfeeinrichtungen arbeitet daran, das Thema schon in der Jugendhilfe aufzugreifen. Die Sozialpädagogin Hannah Leidenberger und ihre Teamkolleg*innen des Careleaver-Projekts organisieren Veranstaltungen und Treffen. Sie ermutigen die jungen Erwachsenen, sich miteinander zu vernetzen und bieten Workshops und Themenabende an.
Die Angebote erreichen aber vor allem Carereceiver. Die bereits ausgezogenen Careleaver zu erreichen, sei laut Leidenberger schwieriger. Außerdem sind die Angebote von Careleaver-Projekten begrenzt. Die Ansprechpartner*innen der Projekte können den jungen Erwachsenen nicht immer zur Verfügung stehen.
Die Careleaver kommen mit alltäglichen Problemen zu den Treffen. Probleme, die sich mit der Zeit anhäufen können. Besonders, wenn die jungen Erwachsenen keine Ansprechpartner*innen haben oder ihre gewohnten Betreuenden verlieren. Deshalb organisieren Vereine wie eva und der Careleaver e.V. verschiedene Hilfsangebote. Über Ombudsstellen, das Jugendamt und über Sozialpädagog*innen können die Jugendlichen sich in bestimmten Fällen auch informieren.
Nach ihrem Auszug aus ihrer alten Gruppe konnte sich Jamie noch nicht vorstellen, alleine zu wohnen. Mittlerweile weiß die Carereceiverin, dass ihr das Alleinleben auch gefällt. Sie vermisst zwar manchmal das Gemeinschaftsgefühl ihrer alten Gruppe, genießt es aber auch, ihren eigenen Haushalt machen zu können.
Sie hat ihren festen Alltag, konzentriert sich auf die Schule und geht zur Therapie und den Beratungstreffen mit ihren Betreuenden.
Währenddessen ist sie Mitglied in einem Careleaver-Verein und sammelt Informationen, die ihr nach ihrem Auszug helfen werden. Sie wird weiterhin auf Leute treffen, die vielleicht ähnliche alltägliche und rechtliche Probleme haben. Und eines Tages wird auch sie offiziell Careleaverin sein.