Deutsche Pünktlichkeit – auch bei der Ausgangssperre?
Eine Zahl hat sich in den Köpfen der Bürger*innen Baden-Württembergs in den letzten Monaten besonders eingebrannt: 20 Uhr. Kein späteres Einkaufen, keine langen Tagesausflüge, kein unnötiger Aufenthalt. Diese Ausgangssperre ist zwar erstmal passé, doch saß wirklich jeder um 20 Uhr zuhause?
Seit dem 12. Dezember 2020 durften Bürger in Baden-Württemberg das Haus zwischen 20 und 5 Uhr nicht verlassen. Zwei Monate hielt diese nächtliche Ausgangssperre an, Zeit ein Resümee zu ziehen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die weitaus überwiegende Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger an die Ausgangssperre hält“, sagt Michael Schlüssler von der Polizei-Pressestelle Reutlingen. Bis zum 7. Februar dieses Jahres stellte die Polizei in Baden-Württemberg gut 27.000 Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen fest. Im Vergleich: In den vergangenen drei Monaten gab es im Bundesland über 100.000 Verstöße gegen die Maskenpflicht. Manche Vergehen kämen jedoch gar nicht zur Anzeige, da die Polizeibeamt*innen stets den Dialog suchen und Einsicht der Bürger*innen appellieren, meint Schlüssler.
Nur noch ein paar Chips kaufen oder den besten Kumpel besuchen: All das war nicht erlaubt. Klar ist jedoch auch, dass es nicht nur Menschen gab, die sich strikt an die Ausgangssperre hielten. Wie sah das Verhalten der Bürger*innen in der Realität aus? Das beobachteten edit-Redakteur*innen in einer eigens angelegten Studie. An drei Werkstagen wurden die Autos an einer Hauptverkehrsstraße in Filderstadt gezählt. Alle 10 Minuten wurde die Anzahl festgehalten. Die Daten reichen jeweils von 18 bis 22 Uhr, also rund um den Beginn der Ausgangssperre. Wird sich ein Trend abzeichnen? Gibt es einen Ausschlag kurz vor 20 Uhr, weil viele nach Hause müssen vor dem Beginn der Ausgangssperre? Und wie viele Menschen sind nach 20 Uhr noch unterwegs?
Dass der Feierabendverkehr immer mehr abflacht, überrascht nicht. Allerdings sieht man sehr deutlich einen starken Rückgang des Verkehrs kurz nach 20 Uhr. Nur wenige sind während der Ausgangssperre unterwegs, aber es gibt solche. Ob diese alle einen triftigen Grund dafür hatten? „Zum Nachweis eines triftigen Grundes genügt die Glaubhaftmachung, eine schriftliche Erlaubnis braucht man nicht vorzeigen“, erklärt Schlüssler. Als triftiger Grund zählen beispielsweise der Weg von oder zu der Arbeit, der Hundespaziergang oder ein medizinischer Notfall. Doch im Großen und Ganzen hat sich gezeigt, dass die Ausgangsbeschränkungen weitgehend eingehalten wurden. Die deutsche Pünktlichkeit macht sich auch hier bemerkbar. Kurz vor 20 Uhr ist kein Peak zu erkennen, der andeuten würde, dass viele kurz vor der Ausgangssperre noch den Heimweg antreten.
Interessant zu sehen ist auch, dass in den ersten zehn Minuten der Ausgangssperre der Verkehr zwar bereits stark nachlässt, jedoch nicht direkt auf den Minimalwert sinkt. Das könnte damit zu tun haben, dass einige Supermärkte bis Punkt 20 Uhr geöffnet haben. So auch ein Penny-Markt, welcher nur 300 Meter von der Messstelle entfernt ist. „Die Einhaltung der Ausgangssperre obliegt der Eigenverantwortung der Kunden“, sagt die Penny-Pressestelle. Denn wer um 19.59 Uhr den Supermarkt verlässt, wird wohl kaum vor Beginn der Ausgangssperre zu Hause sein. Die zur Verfügung gestellten Zahlen zeigen aber, dass in der letzten Stunde deutlich weniger Kunden im Markt einkaufen.
Nur selten kämen kurz vor 20 Uhr noch Kunden in den Laden, erzählt ein Mitarbeiter der Penny-Filiale in Filderstadt. Das sei nur an den ersten Tagen der Ausgangssperre so gewesen. „Manchmal kommt ab 19.30 Uhr gar keiner mehr“, sagt er. Es gab also keinen Peak kurz vor Beginn der Ausgangssperre, einer anderen Mitarbeiterin fällt jedoch auf: „Zwischen 18 und 19 Uhr war schon immer viel los, aber mit der Ausgangssperre sind noch mehr Kunden zu dieser Zeit im Laden. Es entzerrt sich weniger.“ Demnach stellt sich die Frage, ob diese Komprimierung der möglichen Einkaufszeit das Infektionsrisiko steigert. Erkennbar ist aber, dass die Bürger*innen weitgehend einsichtig und pflichtbewusst sind.
Insgesamt hat die nächtliche Ausgangssperre ihre Aufgabe erfüllt. Aktuell sinken die Zahlen der Corona-Infizierten in ganz Baden-Württemberg. Ab nun dürfen die Bürger*innen auch nachts wieder vor die eigene Haustür treten, es sei denn, die 7-Tage-Inzidenz des Landkreises ist zu hoch.