„‚Mama-sein‛ (...) ist ein Gefühl zwischen Erwachsenen und Kindern. (...) Ich bin nicht eifersüchtig darauf, meinen Mama-Status zu teilen.“
Eine Liebe zu viert
Es fing mit einer Textnachricht an. Julia, Elena, Lara und Viviane schmunzeln, wenn man sie danach fragt, wie sie sich kennengelernt haben. Sie hatten ihren ersten Kontakt online. „Ich habe nur Grüße dagelassen“, sagt Julia. An eine polyamore Beziehung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken, es ging um Freundschaft. Nach einigen Treffen hat jede von ihnen zeitgleich bemerkt, dass die Gefühle für das jeweils andere Ehepaar mehr als nur freundschaftlich waren. Die vier sind seit August letzten Jahres zusammen, jede mit jeder. Sie bezeichnen sich als ein geschlossenes Unicorn Quad. Das bedeutet, dass sie zwar polyamor leben, aber keine weiteren Personen in ihre Vierer-Beziehung lassen.
Sozialwissenschaftler und Polyamorie-Forscher Stefan Ossmann schätzt, dass etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung polyamorös empfinden. Davon leben aber nur etwa ein Zehntel diese Beziehungsform aus. Ein Grund dafür kann die Angst sein, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden. Außerdem könnte die Gefahr bestehen, die bisherige Beziehung zu verlieren. Verbindungen wie das geschlossene Quad von Julia, Elena, Lara und Viviane gibt es in unterschiedlichen Formen. Hierbei sei alles möglich: geschlossene sowie offene Konstellationen.
Ehe zu viert?
Julia und Viviane sind bereits seit fünf Jahren verheiratet und haben drei Kinder. Lara und Elena haben im Dezember geheiratet, als ihre Beziehung zu viert noch ziemlich neu war. Das haben nicht alle aus ihrem Umfeld verstanden, erklärt Lara. Warum Elena heiraten, wenn es noch zwei weitere Frauen in ihrem Leben gibt? Die Beziehung zu Julia und Viviane habe nichts daran geändert, Elena heiraten zu wollen. „Ich liebe meine Frau und ich will sie für den Rest meines Lebens an meiner Seite haben. Es gibt nichts, das diese Meinung und dieses Gefühl ändern könnte“, sagt Lara. Am Tag der Hochzeit haben sie alle vier gemeinsam gefeiert, ohne eine Spur von Eifersucht.
Seit kurzem leben alle in einer Wohnung zusammen: vier Frauen, drei Kinder und vier Katzen. An der Wand hängt ein Haushaltsplan mit verschiedenfarbigen Punkten. Jede Farbe repräsentiert eine Person. Ein Vorteil an einer Beziehung zu viert sei die Verteilung der Aufgaben im Haushalt. Jede profitiere davon, dass sie bestimmte Dinge nicht erledigen muss, weil sie eine der anderen bevorzugt. „Ich mach‘ lieber die Küche und andere machen lieber das Bad, dann muss ich das Bad nicht machen und die anderen die Küche nicht“, sagt Elena.
Chance und Verlockung
Ein weiterer Vorteil sei, dass durch eine polyamore Beziehung mehr Bedürfnisse befriedigt werden können, erklärt Diplom-Psychologin Marleen Vogt. Beispielsweise das Bedürfnis nach Anerkennung oder nach sexueller Vielfalt. Außerdem stellt diese Art von Beziehung für manche einen Schutzfaktor dar, wenn man Angst hat, verlassen zu werden oder Angst vor zu tiefer emotionaler Bindung empfindet. Es ist ebenfalls möglich, sich mit eigenen Themen wie Eifersucht und Sicherheit viel schneller und intensiver auseinanderzusetzen, erklärt Vogt. Das liegt daran, dass sie von Beginn an eine große Rolle in einer polyamoren Beziehung spielen. Allerdings könnte so auch die Gefahr bestehen, dass man bestimmten Problemen ausweicht und sich diesen Gefühlen nicht stellt und stattdessen zu einer Partnerin oder einem Partner geht, bei dem diese Themen nicht aufkommen.
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Eifersucht und Rollenverteilung
Laut Marleen Vogt kann die Eifersucht ein Gefühl der Unsicherheit oder des Kontrollverlusts darstellen. Diese Gefühle hätten ihren Ursprung oft schon in der frühen Kindheit. In einer polyamoren Beziehung sei es daher besonders wichtig, über Grenzen, Blickwinkel und Bedürfnisse zu sprechen. „Selbst wenn man über alles redet, redet man immer noch zu wenig“, erklärt Vogt weiter. Denn jeder Mensch habe eine individuelle Prägung und erlebe eine ganz eigene Geschichte. Je mehr Partner*innen da sind, desto komplexer sei das.
Insgesamt komme es bei einer Polyfamilie auf die individuelle Planung an. Es müsse klar sein, wer welche Rollen einnimmt. Hierbei könnten rechtliche Fragen kompliziert sein: Wer entscheidet, wo die Kinder zur Schule gehen? Wer darf generell entscheiden?
Plötzlich Mamas
Viviane erklärt, dass sie alle im Alltag an der Erziehung beteiligt sind. „Wenn eine Nein sagt, heißt das Nein. Egal ob Lara, Elena, Julia oder ich das sage.“ Bei den Kosenamen gibt es ein buntes Durcheinander: Lara und Elena werden von den Kindern beim Namen oder auch „Mum Lara“ und „Mammina“ genannt. Julia ist die „Mama“, weil sie das für ihre große Tochter schon immer war. Sie hat sie aus ihrer ersten Ehe mit einem Mann mit in die Beziehung gebracht. In der Ehe mit Viviane haben sie ihr dann den Kosenamen „Mami“ angeboten, damit sie wussten, wer gemeint ist. Julia und Viviane haben dann noch jeweils ein weiteres Kind ausgetragen. Die Mütter kommen regelmäßig mit den Kosenamen durcheinander. Doch das stört die Kinder nicht, im Gegenteil. Sie sind froh darüber, dass mehrere Mamas da sind. Beispielsweise ist Elena für die älteste Tochter „Ansprechpartnerin Nummer Eins“ bei Fragen rund um Schminke und Haare.
Julia wurde einmal gefragt, ob sie ein Problem damit habe, dass es mehrere Mütter für ihre Kinder gibt. „‚Mama-sein‛ (...) ist ein Gefühl zwischen Erwachsenen und Kindern. (...) Ich bin nicht eifersüchtig darauf, meinen Mama-Status zu teilen“, war ihre Antwort darauf. Viviane und Julia finden es schön, wenn ihre Kinder zu mehreren Menschen solche intensiven Gefühle haben.
Familiengestaltung
Die leiblichen Eltern spielen für Kinder immer eine zentrale Rolle, erklärt Vogt. In den ersten Monaten im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren würden Kinder am meisten lernen. Unter anderem, was Bindung und Sicherheit bedeutet und wie man mit Frustration umgeht. Doch unabhängig davon, in welcher Konstellation sie aufwachsen, gehe es um die konkrete Familiengestaltung. Die Grundidee, mit mehreren Erwachsenen aufzuwachsen, sei auch nicht neu. Man erlebt das auch in Großfamilien und in anderen Ländern. „Es hat natürlich Vorteile, wenn mehrere Bezugspersonen da sind, macht es aber manchmal auch komplizierter. Je nachdem, wie es die Erwachsenen leben“, so Vogt.
Sichtbarkeit für mehr Diversität
Vorurteile und Diskriminierung gegenüber dieser Beziehungsform sind keine Seltenheit. „Sowas kann doch nicht funktionieren!“, behaupten einige. Julia, Elena, Lara und Viviane haben einen Instagram-Kanal gegründet, um dem entgegenzuwirken. Bisher waren sie dort nur mit einem Hate-Kommentar konfrontiert. Sie wollen Sichtbarkeit für alternative Beziehungs- und Familienformen schaffen. „Unsere Kinder werden ja auch in dieser Welt groß und sie sollen auch mal lieben dürfen, wen sie wollen“, betont Julia.