Lügen haben lange Beine
Acht Uhr morgens, Paris. Noch mit Schlafsand in den Augen habe ich mich auf den Weg gemacht, um den Eiffelturm möglichst menschenleer vorzufinden. Gefühlt 200 andere Schlauköpfe hatten wohl genau die gleiche Idee. Ich laufe dem riesigen Bauwerk entgegen, Stockwerk für Stockwerk mustere ich die Architektur. Als mein Blick an der Spitze des Turms hängen bleibt, stolpere ich fast über einen scheinbar reglosen Körper. Die architektonische Meisterleistung scheint einen Touristen wortwörtlich umgeworfen zu haben. Auf dem zweiten Blick erkenne ich ein Smartphone in seiner Hand, mit dem er eine posierende Frau aus dem bestmöglichen Winkel fotografiert. Ich bin beeindruckt von der Hingabe für ein simples Touri-Bild. Dennoch wirkt der Eiffelturm im Hintergrund unscheinbar klein im Gegensatz zu den endlos langen Beinen, die durch die Perspektive optisch gestreckt wurden.
Mittlerweile kommt es wohl gar nicht mehr darauf an, ein Foto mit einer Sehenswürdigkeit gemacht zu haben. Der eigentliche Fokus liegt auf der Selbstdarstellung des Langbein-Influencers, da könnte auch ein Vulkan im Hintergrund ausbrechen. In der glühenden Asche würde dennoch ein armer Fotograf liegen, der von unten Bilder machen muss, damit die Beine des „Models“ länger aussehen.
Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt...
Und wenn die Perspektive allein nicht ausreicht, dann muss notfalls mit Photoshop nachgeholfen werden. Dabei werden aber nicht nur störende Touristen entfernt. Auch am eigenen Körper werden Änderungen vorgenommen: Beine werden verlängert, Taillen schmaler gemacht und Nasen korrigiert. Ganz Instagram ist voll mit solchen Lügen. Dabei führen falsche Wahrnehmungen nicht gerade dazu, dass Menschen anfangen, ihren eigenen Körper zu lieben. Im Gegenteil, gerade Jugendliche werden negativ beeinflusst. Eine Forsa-Umfrage bestätigt, dass sich durch den Vergleich mit Influencern jeder sechste Schüler zwischen 13 und 18 Jahren häufig unter Stress gesetzt fühlt.
Stress für eine Lügenwelt, lohnt sich das? Natürlich nicht. Genau so wenig wie der ganze Aufwand für ein paar Likes und oberflächliche Kommentare. Aber Menschen sehnen sich nach der Art von Aufmerksamkeit und Bestätigung. Anders lässt es sich nicht erklären, warum man morgens um acht auf dem Asphalt vor dem Eiffelturm liegt. Alles was man braucht ist ein engagierter Fotograf und Bildbearbeitung und schon haben Lügen lange Beine.
Einen weiteren Teil der Kolumne „Nimm´s wörtlich" findest du hier.