„Man bekommt schon vermittelt, dass man gefälligst schlank sein soll.“
Nie mehr auf Zehenspitzen gehen
Montag. Die neue Woche beginnt. Chana macht sich auf den Weg in die Akademie. Sie hatte in Ulm eine Ausbildung zur Ballettpädagogin angefangen. Doch es war nicht so, wie sich die Tänzerin das erträumte. Sie hatte erwartet, mit so viel Ausstrahlung unterrichten zu lernen, wie ihre Balletttrainerin aus dem Teenageralter. Ein ungutes, mulmiges Gefühl macht sich in ihr breit, ehe sie die Tür zum Ballettsaal öffnete. Würde es wieder so schlimm werden, wie letzte Woche?
Die heutige Ballettpädagogin erinnert sich, wie sie damals unter Druck gesetzt wurde. „Jeden Tag ließ unsere Lehrerin ihre Laune an uns raus.“ Es war nicht selten, dass jemand gesagt bekam, nicht gut genug zu sein oder nach dem Unterricht anfing zu heulen. „Wir wurden angeschrien und hatten nur noch Angst.“ Viele der Tänzer*innen verließen die Ausbildung von einem auf den anderen Tag.
Nach einiger Zeit stellte die Tänzerin fest, dass sie zu wenig Theorie lernt. Sie wollte gut werden. Richtig gut. Doch dazu fehlte ihr das Handwerk, welches sie später einmal zu einer kompetenten Pädagogin machen sollte. „Es geht mir ja darum, wie ich Dinge unterrichten kann, damit die Schüler besser werden und nicht, damit ich da vorne stehe und die Beste bin“, erklärt die heutige Ballettlehrerin. Ihre Zweifel an der Ausbildung wurden immer größer. Hinzu kam der ständige Druck. Zu viel Druck. Sie entschied sich abzubrechen.
Auch körperlich sollten die Tänzer*innen einem Ideal entsprechen. Es wurde regelmäßig abgefragt, was sie zum Frühstück gegessen hätten. Chana selbst konnte damit umgehen. Sie hätte es eher verletzt, wenn anderen damit weh getan wurde. Trotzdem hörte sie solche Dinge nicht selten. „Man bekommt schon vermittelt, dass man gefälligst schlank sein soll“, berichtet die Tänzerin. Das wäre zwar nicht überall so, aber im Profibereich des Öfteren. Der ständige Leistungsdruck hätte sogar so manch einen in eine Essstörung geführt.
Vom Leistungsdruck bis in die Essstörung
Leistungsdruck ist mit dem Stressbegriff gleichzusetzen. „Er entsteht, wenn die Bedrohlichkeit meiner Situation größer erscheint, als die Einschätzung meiner Fähigkeiten, das auch schaffen zu können“, erklärt Sportpsychologe Oliver Stoll. Essstörungen können eine Folge von andauerndem Leistungsdruck sein. Eine Art Coping-Strategie: Kompensation, dem Druck zu entfliehen.
Sportler*innen müssen sich häufig mit dem Körper und der Ernährung auseinandersetzen. Dennoch sei nicht zu sagen, dass diese dementsprechend auch häufiger an einer Essstörung erkranken würden, meint Stoll. „Wir wissen jedoch um gewisse Sportarten mit bestimmten Anforderungen, bei denen eine Auffälligkeit herrscht.“ Stoll spricht unter anderem von den ästhetischen Sportarten: Rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlauf, Turnen, Ballett. Eine Metaanalyse von 2021, die sich mit dem Krankheitsbild gestörten Essverhaltens auseinandersetzt, zeigt: Die Zahlen für Schlankheitsdrang und restriktives Essverhalten bei Balletttänzer*innen sind höher als die der Kontrollgruppe. Balletttänzer*innen könnten aufgrund dessen eher an einer Essstörung erkranken, als die Allgemeinbevölkerung.
Schlankheitsdrang und Perfektion
Auslöser für Essstörungen können sehr vielseitig sein. Sie seien häufig eine Folge von Misserfolg oder Versagen und wären eine Art Kontrolle zurückzuerlangen, erklärt Stoll. Im Ballett existieren traditionelle Körperideale, denen Tänzer*innen – unter Umständen – gerecht werden möchten. Tanzmedizinerin Liane Simmel machte die Erfahrung, dass Tänzer*innen die Pubertät nicht herbeisehnen. „Sie fingen teilweise an zu hassen, was der Körper macht.“ Das sei häufig der Einstieg in ein kontrolliertes Essverhalten gewesen, um zu regulieren, was selbst noch zu beeinflussen war. Klassischer Tanz fordert Perfektion. Simmel bestätigt: „Es ist ein Markenkriterium des klassischen Tanzens, Formen zu erfüllen und perfekt auszuführen.“ Diese Perfektion unterliegt einer langjährigen Balletttradition.
„Die Tänze wurden immer schneller und die Körper immer schmäler.“
Das Ballett entstand vor rund 500 Jahren. Es sei eine Kunstform, die sich nicht von der Gesellschaft trennen ließe, erklärt E. Hollister Mathis-Masury, ehemalige Tanzdozentin der Universität Stuttgart. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete George Balanchine das „New York City Ballet“. Balanchines Choreos waren inspiriert von der Schnelllebigkeit, Urbanität und Industrialisierung Hollywoods. „Die Tänze wurden immer schneller und die Körper immer schmäler“, berichtet Mathis-Masury. Die schmalen Körper seien jedoch eine Folge des schnellen Tanzes gewesen, welcher eine erhöhte Cardio-Leistung erforderte und dementsprechend zur Gewichtsabnahme führen würde.
Veränderung in Sicht
Doch das schmale Körperbild verliert, wenn auch sehr langsam, an Bedeutung. „Früher wurde vielen Balletttänzern vertraglich verboten, Fahrrad zu fahren, weil es die Schenkel zu dick machen würde“, erzählt Mathis-Masury. Auch Tanzmedizinerin Simmel berichtet davon, dass die Traditionen langsam veralten. Ballett-Kompanien würden immer mehr Tänzer*innen vielerlei Körperformen aufnehmen. „Veränderung muss im Kleinen anfangen. Man sollte auch andere Möglichkeiten anbieten und hoffen, dass sich diese verbreiten“, entgegnet Simmel auf die Frage, wie es möglich sei, das Körperideal im Ballett aufzubrechen.
„Ich habe gelernt, dass ich meine Schüler nie so behandeln möchte, wie wir behandelt wurden.“
Chana ist schon Teil der Veränderung. Sie beendete ihre Ausbildung an einer staatlich anerkannten Akademie in Fellbach und leitet heute die Ballettschule ihrer damaligen Trainerin aus dem Teenageralter. Ohne Schreien. Ohne Druck. Ohne Bodyshaming. „Es sollte dem da vorne doch egal sein, ob jemand zehn Kilo mehr oder weniger wiegt“, meint Chana. Ihr seien positive Bestärkungen wichtiger. Chana ist überzeugt, dass die Qualität nicht darunter leidet. Im Gegenteil: Der größte Effekt würde sich zeigen, wenn die Tänzer*innen aus eigenem Antrieb besser werden wollen.
Über die Zeit in Ulm sagt die Ballettpädagogin heute: „Ich habe gelernt, dass ich meine Schüler nie so behandeln möchte, wie wir behandelt wurden.“ Chana ist über Umwege an ihrem Ziel angelangt. Ein Umweg, der sich für ihre heutigen Schüler*innen gelohnt haben dürfte.