Poetry Slam 8 Minuten

„Der Wettkampf des gesprochenen Wortes“

Auf der Bühne, mit dem Mikro vor sich und ihrem eigenen Text in der Hand, steht Evelyn beim Poetry Slam
Während ihrer Auftritte fühlt sich Evelyn wie in einem Tunnel. Das Publikum nimmt sie beim Vortragen kaum wahr. | Quelle: Tobias Heyel
21. Mai 2025

Ruhig, klar, überzeugend: Evelyn Krutsch studiert Rhetorik in Tübingen und steht regelmäßig beim Poetry Slam auf der Bühne. Die 23-Jährige erzählt, was sie beim Schreiben inspiriert, wie sie Studium und Auftritte miteinander vereinbart und warum KI für sie keine kreative Konkurrenz ist.

Als Vierte des Abends wird Evelyn aufgerufen. Mit ruhigen Schritten betritt sie die Bühne in Reutlingen, ein Blatt Papier in der Hand. Sie wirkt gelassen, von Aufregung keine Spur. Nur sie, ein Mikrofon und ein erwartungsvolles Publikum. Bevor es losgeht, bringt sie mit ein paar lockeren Sprüchen das Publikum zum Lachen. Dann wird es still. Jetzt hat sie sieben Minuten, die Zuhörenden mit ihrem Text zu überzeugen.

Der Moment auf der Bühne

Seit drei Jahren steht Evelyn nun auf der Bühne und hat dabei viele Erfahrungen gesammelt. Aufgeregt ist sie kaum noch. Die Nervosität kommt bei ihr erst nach dem Auftritt, wenn der Text vorbei ist und die Reaktionen einsetzen. Das Gefühl während des Vortrags beschreibt sie als Tunnel. „Man bekommt meistens gar nichts mit vom Publikum“, sagt sie. In diesen Momenten ist sie ganz bei sich und legt großen Wert darauf, keine Fehler zu machen und die wichtigen Stellen im Text richtig zu betonen. Ihr Auftritt ist aber auch stark von ihrer Gefühlslage abhängig. Wenn es ihr nicht gut geht oder sie sich verspricht, merkt sie sofort, dass sich das negativ auf die Bewertung auswirken kann. Selbst ein gut geschriebener Text verliert an Wirkung, wenn er zu leise oder ohne passende Betonung vorgetragen wird. Pausen, Rhythmus und eine deutliche Aussprache beeinflussen stark, wie das Gesagte beim Publikum ankommt. 

Ausschnitt aus ihrem Auftritt in Reutlingen vom 15. April 2025 | Quelle: Anna Fetzer

Bereits in der Grundschule schrieb sie gerne Geschichten. Doch ihre Begeisterung für Poetry Slam entwickelte sich erst viel später. Während sie in der elften Klasse an einem Projekt arbeitete, stieß sie zufällig auf ein YouTube-Video eines Slam-Poeten. Es war der erste richtige Kontakt mit der Szene, und sie war sofort begeistert. Ihre Mutter hat sie gleich dazu ermutigt, mit dem Slammen anzufangen. Sie ist mit ihr zu Veranstaltungen gefahren und hat immer an ihr Talent geglaubt. In Tübingen, wo sie lebt und Rhetorik studiert, wagte Evelyn schließlich den Schritt auf die Bühne. Eine Ausschreibung im Campus-Magazin, das einen eigenen Slam veranstaltete, gab den Anstoß. Sie meldete sich an, überwand ihre Unsicherheit und stand zum ersten Mal selbst im Rampenlicht. Dort lernte sie Marina Sigl kennen, eine erfahrene Slammerin, die ihr half, erste Kontakte in die Szene zu knüpfen. „Und da bin ich dann so reingerutscht“, sagt sie heute. Für Evelyn waren diese Begegnungen prägend. „In der Slam-Szene ist es wichtig, Kontakte aufzubauen und zu pflegen“, erklärt sie. Ohne ein gutes Netzwerk sei es schwer, Fuß zu fassen. 

Was ist ein Poetry Slam?

Poetry Slam ist ein Wettkampf des gesprochenen Wortes. Die Teilnehmenden tragen selbstgeschriebene Texte vor, in einem festgelegten Zeitrahmen. Die Texte können mal kraftvoll laut, mal still und nachdenklich sein. Das Publikum entscheidet, wer gewinnt. 

Quelle: Poetry Slam Tübingen

Mehr als nur ein Wettbewerb

Manchmal hat Evelyn das Gefühl, dass sie es verlernt hat, über Themen nachzudenken, ohne sie sofort in einen Text verwandeln zu wollen. Wenn ihr etwas passiert oder sie etwas hört, das sie anspricht, sieht sie es sofort als Inspiration und möchte es aufschreiben. Auch ihre Beziehung zum Poetry Slam hat sich im Laufe der Zeit verändert. „Es ist wie ein Hobby zu haben, das immer der Wertung ausgesetzt ist“, erklärt sie. Zu gewinnen ist ein schönes Gefühl, vor allem die Tatsache, dass sie Baden-Württembergische Vizemeisterin ist, sei eine große Ehre. Heute hat sie den Wettkampfgedanken weitgehend abgelegt. Viel wichtiger ist es ihr, mit ihren Texten die Menschen zu berühren und zum Nachdenken anzuregen. 

Die Frage, wie sie Studium und Poetry Slam vereint, lässt Evelyn schmunzeln. „Ich weiß gar nicht, wie ich das mache, ich glaube, es ist eine Sache der Prioritätensetzung“, sagt sie. Von Anfang an wusste sie, dass sowohl das Studium als auch ihre Leidenschaft für Poetry Slam wichtig sind. Sie versucht, beides gleichwertig zu behandeln, auch wenn es manchmal schwierig ist. So hat sie schon Seminare verpasst, um zu einem Auftritt zu fahren, oder einen Auftritt abgesagt, weil sie für Prüfungen lernen musste. Diese Balance gehört für sie einfach dazu. Neben Poetry Slam sucht Evelyn ihren Ausgleich im Lesen und Yoga. Doch seitdem sie regelmäßig auf der Bühne steht, bleibt weniger Zeit für andere Hobbys. Die Vorbereitung, das Reisen und die Auftritte selbst nehmen viel Zeit in Anspruch. Meistens hat Evelyn vier Slams im Monat, manchmal auch mehr. Sie wird oft angefragt und erhält dafür eine Gage. Doch um neue Bühnen zu finden, muss sie auch selbst aktiv werden. Dafür schreibt sie Veranstalter an oder trägt sich in offene Listen ein.

Der kreative Prozess

Wie lange sie an einem Text arbeitet, kann Evelyn nicht genau sagen. Manchmal kommen ihr die Ideen ganz spontan im Alltag. Ein Satz, ein Gedanke, ein Moment und plötzlich beginnt sich ein Text in ihrem Kopf zu formen. Der Schreibprozess kann dann eine Woche dauern, manchmal zieht er sich über mehrere Monate. Meist ist es ein Thema, das sie nicht loslässt, dass sie nachts wachhält. Dann beginnt sie einfach, alles aufzuschreiben, was ihr dazu einfällt. Ihre Texte sind oft ernst und nachdenklich, aber gelegentlich auch humorvoll. Ihr Stil ist dabei nicht festgelegt. „Ich habe das Gefühl, es muss mir zufliegen“, sagt Evelyn.

„Ich habe das Gefühl, es muss mir zufliegen.“

Evelyn Krutsch

Künstliche Intelligenz spielt für sie im kreativen Prozess keine Rolle. Sie lehnt die Nutzung ab, da sie daran zweifelt, dass Maschinen das erreichen können, was echte Poet*innen mit ihren Worten auslösen. Auch wenn sie aus Spaß mit ChatGPT experimentiert hat, empfindet sie die generierten Texte als inhaltslos. Für sie steht fest: „Kunst und Kultur machen die Menschen aus, und für mich fühlt es sich nicht richtig an, das von der KI machen zu lassen.“ Den Einfluss von KI in der Poetry Slam Szene hat sie bisher nicht gespürt.

Hinter den Kulissen bei Evelyns Auftritt in Reutlingen | Quelle: Anna Fetzer

Am Ende des Abends steht fest: Evelyn hat das Publikum überzeugt. Auch im Finale trägt sie ihren Text mit Ruhe und Tiefe vor, berührt mit Worten und Haltung. Applaus erfüllt den Saal, als sie den Abend für sich entscheidet. Für sie ist Poetry Slam mehr als ein Wettbewerb. Es ist Ausdruck, Begegnung und Leidenschaft. Ein Raum, in dem sie ihre Gedanken teilt und Menschen bewegt. Nach dem Bachelorabschluss kann sie sich gut vorstellen, auf Tour zu gehen, unterwegs mit Worten, die bleiben.