„Sichere Sklaverei steht für die Frauen über einer ungewissen Freiheit.“
Ware Liebe
Bei Sabine Kopal, Sozialarbeiterin, klingelte das Telefon. Marie* war am anderen Ende der Leitung. Die junge Frau erzählte, dass sie als Prostituierte arbeite. Schuld daran sei ihr Freund. Zur gleichen Zeit befand sich die 19-Jährige im Krankenhaus: Schwanger. Kurz vor einer Abtreibung. Was für junge Frauen sowieso schon Herausforderung genug ist, war für Marie noch schwieriger. Denn sie entschied sich nicht freiwillig für die Abtreibung. Für die Sozialarbeiterin war sofort klar: Marie ist ein Opfer der Loverboy-Masche.
Es gibt zwar Prostituierte, die unabhängig und freiwillig arbeiten, die Loverboy-Masche geschieht allerdings nur anfangs aus freien Stücken. Der Übergang von einem normalen Leben zur Prostitution geschieht fließend und die Liebe ist blendend, sodass die Mädchen oft nicht richtig realisieren, wie ihnen geschieht. Die Frauen gehen weiterhin zur Schule, prostituieren sich aber nebenher für ihren vermeintlichen Freund. Das kann zu tiefen Wunden führen, seelisch sowie körperlich. Physische Auswirkungen können Verletzungen im Intimbereich sowie Geschlechtskrankheiten sein. Auch gewalttätiges Anfassen und meist mangelnde ärztliche Kontrollen spielen eine Rolle.
Körperliche Nähe und große emotionale Distanz
Die körperlichen Folgen sind in der Regel heilbar, die seelischen können jedoch ein Leben lang bleiben. Angefangen mit dem psychischen Druck, ständig verfügbar zu sein, wird die Frau konstant zum Objekt gemacht. „Für die Loverboys ist die Frau eine nie ausgeschöpfte Geldquelle, mit der sie ohne Erstinvestition ins Geschäft einsteigen können“, sagt Monja Lichtlein, ehrenamtliche Streetworkerin beim Verein Esther Ministries in Stuttgart. Die Frau muss sich dem Willen des Mannes beugen und überschreitet damit dauerhaft eigene Grenzen. Ihr Wille wird, wenn es sein muss, zwanghaft gebrochen. „Das Gefühl von maximal körperlicher Nähe bei größter emotionaler Distanz ist eine immense Herausforderung“, erklärt Sozialarbeiterin Sabine Kopal, die auch ehrenamtlich beim Ausstiegsverein SISTERS arbeitet. Die eigenen Bedürfnisse werden unterdrückt und es entsteht ein Zustand der inneren Ohnmacht. Eine Studie von Melissa Farley, Psychologin und Wissenschaftlerin, aus dem Jahr 2003, hat ergeben, dass von 827 befragten Prostituierten 68 Prozent eine posttraumatische Belastungsstörung aufweisen. Diese ist vergleichbar mit den Erlebnissen von Kriegsveteranen oder Flüchtlingen.
All diese Faktoren führen zu seelischen Verletzungen. „Prostitution ist fortwährende Traumatisierung“, da sich die belastende Situation immer wiederhole, erklärt Monja Lichtlein. Um diese traumatisierenden Erlebnisse ertragen zu können, entwickeln die Frauen, meistens unterbewusst, Bewältigungsstrategien. Die sogenannte Dissoziation ist eine von ihnen. Grob gesagt, beschreibt es die Abspaltung von sich selbst in mehrere Bereiche, wie die Wahrnehmung, das Bewusstsein oder die Körperempfindungen. Mit einem fiktiven Schalter träumen sich die Frauen, bewusst oder unbewusst, in eine schönere Welt.
An die Vorstellung einer besseren Realität setzen auch verschiedene Hilfsorganisationen an. Mit ihrer Arbeit möchten sie den Frauen eine neue Perspektive aufzeigen. Regelmäßig besuchen Streetworkerinnen die Prostituierten. Durch aufmerksames Zuhören, Nachfragen und kleine Geschenke möchten sie den Frauen einen Raum zum Reden ermöglichen und ihnen Wertschätzung entgegenbringen. „Für die Frauen ist es ein großer Schritt anzuerkennen, dass nicht alles in Ordnung ist, da sie kein gesichertes Umfeld haben“, erklärt Lichtlein. Die Frauen hätten kein eigenes Opferverständnis und würden sich vieles schönreden, um sich ihre Lage nicht eingestehen zu müssen.
Schritt ins Unbekannte
Wenn eine Betroffene ihre Situation anerkennt und ändern will, wird sie von Hilfsorganisationen unterstützt. „Dann muss alles sehr schnell gehen“, betont die Streetworkerin. Die Frau wird zunächst in eine Schutzwohnung, meist außerhalb der Stadt, gebracht, um sich dort fürs Erste erholen zu können. Das Problem ist, dass das Milieu für die Frauen ihr ganzes Leben definiert. Bei einem Ausstieg stehen sie demnach ohne Wohnung und ohne Job da. Ein Teufelskreis, der sich nur schwer durchbrechen lässt. Sozialarbeiter greifen deshalb in den Prozess ein. Geduldig unterstützen sie, mit Struktur, die Betroffenen bei allen Schritten: von Arztbesuchen bis zur Jobsuche. Während der Kontakt zum bisherigen Leben aufgegeben werden soll, ist es eine zentrale Aufgabe der Sozialarbeiter, neue Kontakte zur Außenwelt herzustellen. Gelingt der Ausstieg, dann ist es „utopisch zu denken, dass die Frauen ein normales Leben führen können“, so Kopal. Die Betroffenen seien lebenslang gezeichnet.
Ein Ausstieg ist also nicht unmöglich, dennoch aber eine riesige Herausforderung. Die Angst vor dem Alleinsein, der ungewissen Zukunft und einem unbekannten Leben, hemmt viele davor auszusteigen. Hinzu kommt die toxische Abhängigkeit und die Liebe zu dem Loverboy, die sie hindern. Die Frau muss sich aus der Manipulation des Mannes lösen, der für sie ihr Leben und ihre Zukunft definierte.
Das war auch bei Marie der Fall. Sozialarbeiterin Sabine Kopal erinnert sich: „Wir haben herausgefunden, dass sie zu ihm zurückgegangen ist und sich auch wieder in Stuttgart prostituiert hat.“
Ein Team um vier Studenten der Hochschule der Medien beschäftigten sich auch mit dem Thema: In einer eigenständigen Filmproduktion entstand ein 45-minütiger Spielfilm zum Thema. „Elenore“ stellt einen „klassischen“ Fall der Masche dar und versucht hierbei Klischees zu brechen. Am 7. März 2020 findet eine Vorstellung in Berlin statt. Weitere Infos unter: https://elenore-film.de/
* Name aus redaktionellen Gründen geändert.