Zwischen den Zeilen leben
Rita Carter bleibt zu Hause. Sie hat eine Atemwegserkrankung und befindet sich aufgrund von COVID-19 in Selbstisolation. In ihrem Haus wohnt sie zwar alleine, betont aber, sie habe ja ihren Hund und ihre Bücher. Das Lesen ist für sie die einzige Möglichkeit, die eigenen vier Wände zu verlassen. Carter ist Wissenschaftsjournalistin und hat unter anderem ein Buch über das Gehirn veröffentlicht. Darin erklärt sie, was sich in den unterschiedlichen Gehirnarealen abspielt, wenn wir lesen.
Realiät und Vorstellung sind gar nicht so verschieden
Als Kind lernen wir zwangsläufig die Sprache, die um uns herum und mit uns gesprochen wird. Wir würden aber niemals instinktiv in einer Bücherei lesen lernen. Während unser Sprachverständnis angeboren ist, muss das Lesen und Schreiben trainiert werden, da es nicht Teil unserer DNA ist. Unser Gehirn vernetzt dabei Areale, die normalerweise nichts miteinander zu tun hätten. Dazu stellt es neuronale Verbindungen her. Dieses Netz an Verbindungen, also die Form des Gehirns – das sind wir. Das sind unsere Erinnerungen und unsere Identität. Dabei unterscheidet das Gehirn nicht zwischen Vorstellung und Realität.
Als Carter mir davon erzählt, schlendert ihr Hund an ihr vorbei und inspiriert sie zu einem Beispiel. Ob wir von einem Hund gebissen werden oder uns das lediglich vorstellen – das Gehirn verbindet die dieselben Neuronen. Der einzige Unterschied ist, dass die Verbindungen schwächer sind. Sind wir besonders gebannt von einer Geschichte, verändert diese uns in einem gewissen Maß. Carter erzählt von einem Science-Fiction-Buch aus ihrer Kindheit, welches die Weichen für ihre heutige Karriere stellte: "A for Andromeda" von Fred Hoyles. Sie beschreibt es als das prägendste Erlebnis ihres Lebens.
Das Leseland DDR
Als die Mauer fiel, war Jeanette Baranowsky 18 Jahre alt. Ihre Kindheit und Jugend hatte sie in der DDR verbracht, immerzu mit Büchern als Verbündete. Die DDR bezeichnete sich selbst gerne als Leseland und förderte die Literatur, sowie Lese- und Schreibfähigkeiten. Jeanette erzählt, dass sie schon in der ersten Klasse viel im Literaturunterricht gelesen haben und die Bücher sehr günstig waren.
Gleichzeitig waren in der DDR jedoch viele Bücher verboten. Ihre Verwandten aus dem Westen versorgten sie deshalb unter anderem mit Comicheften wie „Micky Maus“ und „Fix und Foxi“. In den Park oder die Schule durfte sie die Hefte also nicht nehmen, was sie dennoch heimlich tat. Sie erzählt, dass es als Kind gar nicht unbedingt die geographische Isolation vom Rest der Welt war, die sie einengte – es war viel mehr die Geistige. Andauernd musste sie aufpassen, wem sie was erzählte. Die unterschwellige Angst, es könne ihr ansonsten etwas passieren, war allgegenwärtig. Zu Hause sahen sie viel Westfernsehen und ihr Vater warnte sie morgens: „Und Jeanette, denke dran, dass du dich nicht darüber unterhältst, was wir gestern im Fernsehen gesehen haben.“ Eines ihrer absoluten Lieblingsbücher war die Geschichte des freiheitsliebenden Jungens, der flieht, um Etwas zu erleben: „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Sie kann einen Zusammenhang zwischen ihrer damaligen Isolation und dem Lesen sehen, betont aber, es sei keine bewusste Entscheidung gewesen: „ Man hat sich nach solchen Büchern verzehrt. Und die Bücher haben einen selbst gefunden.“
Unsichtbare Isolation betrifft jeden mal
Nicht jede Form von Isolation ist auf den ersten Blick sichtbar. Leonie ist Studentin und hat fast jeden Abend den Drang zu lesen. In der plötzlichen Stille fangen die Gedanken an, zu kreisen und besonders die Krankheit ihres Vaters bedrückt sie. Lesen hilft ihr, in andere Welten einzutauchen und ihren Alltag hinter sich zu lassen. Es müssen gar nicht einzelne Situationen sein, in denen man sich isoliert fühlt: Jeder fühlt sich zum Beispiel mal nicht verstanden. Es hilft, in einem Buch seine Gedanken und Gefühle wieder zu erkennen. Endlich fühlt man sich nicht mehr so abgeschnitten vom Rest der Welt.
„Lesen macht dich zu einem netteren Menschen“, sagt Carter lachend. Es bringt uns nicht nur näher zu uns selbst, sondern fördert auch unsere Empathie. Einige Studien stimmen ihr zu. Lesen wir regelmäßig, üben wir uns in der Kunst, die Welt aus den Augen anderer zu sehen. Bei einer sozial isolierten und einsamen Person ist das für die Empathie zuständige Gebiet im Gehirn kaum aktiv. Lesen wirkt dem entgegen. Erst lernt die Person Empathie zu fiktionalen Charakteren aufzubauen, dann wird sie auch wieder mit ihrer unmittelbaren Umgebung mitfühlen können. So können Bücher den Weg aus der Isolation erleichtern. Letztendlich hilft uns Lesen nicht nur vor der Welt zu fliehen, sondern auch in ihr zu leben.
Kann uns Lesen nicht auch noch mehr isolieren?
Besteht nicht die Gefahr, dass das Lesen einen noch tiefer in die Isolation sinken lässt? Man liest ja schließlich alleine. Carter erwidert: „Es ist an der Zeit, dass introvertierte Menschen, die in ihrem Kopf leben, nicht mehr hinterfragt und kritisiert werden. Manche Menschen ziehen eben ein spannendes Buch oft langweiligen Gesprächen vor.“ Und ein solches Gespräch kann einen sehr einsam fühlen lassen.
Ein Problem sieht sie dennoch darin, wieder in die eigene Wirklichkeit zurück zu finden. Schließt man ein packendes Buch, gibt es oft einen Moment, in dem man wieder schnell zurück in das Buch fliehen möchte. Sie betont deshalb die Bedeutung von Buchclubs: „Es ist, als ob alle in dieser Welt zusammen kommen und diese somit nicht plötzlich verschwindet.“
Die Autorin Susan Elderkin stimmt Carter zu. In ihrem Buch „Romantherapie“, empfiehlt sie zu jeder möglichen Gefühlslage passende Romane. Zusätzlich zu einem virtuellen Buchclub legt sie uns, auf Nachfrage, die Lieblingsbücher aus unserer Kindheit ans Herz. Diese schenken einem das ersehnte Gefühl von Geborgenheit.
Das Lesen vereint Rita Carter, Jeanette Baranowsky und Leonie in ihrer Isolation. Die drei Frauen haben einen Weg gefunden, sie zumindest zeitweise zu verlassen. „Für mich ist es kein Problem, zu Hause zu bleiben, weil mir meine Bücher wunderbare Begleiter sind“, schließt Rita Carter aus ihrer Erfahrung in der Isolation. Sie fügt hinzu: „Ich kann es kaum abwarten, weiterzulesen.“