Das war dieses Gefühl, nicht gleichwertig zu sein.
Zwischen Schulbüchern und Vorurteilen
Pink und gefüllt mit Süßigkeiten war die Schultüte, die Esther Reinhardt-Bendel zu ihrer Einschulung bekam. In der Turnhalle der Zuffenhausener Grundschule drängten sich die Erstklässler mit ihren Familien. Luftschlangen hingen von der Decke und eine gebastelte Girlande mit Buchstaben aus Tonpapier hieß die Kinder willkommen. Zwischen den anderen Erstklässlern saß Esther in ihrem weißen Kleid mit den großen schwarzen Punkten und verfolgte die Aufführung der Drittklässler und Begrüßung der Lehrer. Voller Aufregung blickte die Siebenjährige ihrer Schulzeit entgegen. „Ich hab mich darauf gefreut, Schreiben und Lesen zu lernen“, erinnert sich Esther heute. Damals wusste sie noch nicht, welche schlimmen Erfahrungen sie später machen wird - wegen ihrer Herkunft.
Denn Esther hat noch einen anderen Namen, der ihr viel bedeutet: Trauba. Auf deutsch: Traube. Esther ist Sinteza – sie gehört zur Minderheit der Sinti. Diese geben häufig ihren Kindern zusätzlich zum deutschen Namen noch einen in ihrer Sprache Romanes. Wie auch Esthers Familie leben viele seit hunderten von Jahren in Deutschland. Trotzdem haben sie es oft schwer im deutschen Bildungssystem.
Die schlechte Bildungssituation von Sinti und Roma verdeutlichte 2011 eine Studie der Organisation der Minderheit RomnoKher - Ein Haus für Bildung, Kultur und Antiziganismusforschung. 13 Prozent der Befragten haben keine Schule besucht, fast die Hälfte hatte keinen Abschluss. Die meisten waren auf der Hauptschule, jeder Zehnte auf der Förderschule. Laut Daniel Strauß, Herausgeber der Studie und Vorsitzender von RomnoKher, sind für den Bildungsstand die Verfolgung von Sinti und Roma in der NS-Zeit und der heutige Antiziganismus verantwortlich. Das bedeutet, dass Menschen wie Esther als Zigeuner abgestempelt und diskriminiert werden.
Auf den ersten Blick halten die meisten Esther für eine Südländerin oder Türkin: leicht gebräunte Haut, dunkle Haare und Augen. Die 34-Jährige steht vor ihrer alten Grundschule – ein großes Beton-Backstein-Gebäude umgeben von einer Grünfläche. Es ist ein heißer Tag. Esther trägt einen engen, schwarz-weiß gemusterten Rock, ein lockeres T-Shirt und weiße Sneaker. Sie wirkt unbeschwert und aufgeschlossen, erzählt viel aus ihrer Vergangenheit. Oft liegt ein Schmunzeln auf ihren Lippen. „Das da war unser Gummi-Twist-Platz“, schildert Esther und zeigt auf eine Mauer vor dem Eingang. Die Grundschulzeit sei sehr schön gewesen. Ihre Lieblingsfächer waren Heimat und Sachkunde, Musik und Kunst. Nur mit Mathe hatte sie Probleme. „Ich war da immer grottenschlecht“, sagt Esther und lacht.
Im Gegensatz zu ihr haben 18 Prozent der Befragten in der Studie von 2011 keine Grundschule besucht. Manche Eltern haben laut Daniel Strauß Angst, dass ihre Kinder dort schlecht behandelt werden. Das liege daran, dass in der NS-Zeit Sinti und Roma von der Schule ausgeschlossen oder dort diskriminiert wurden. Deshalb besuchten viele direkt nach dem Krieg keine Schule. Außerdem hätten einige Eltern dort auch später schlechte Erfahrungen gemacht, so Strauß. Heute passiere das immer noch: „Mit dem Wechsel in die Schule beginnen sofort Diskriminierungserfahrungen.“
Das hat auch Esther in der dritten Klasse erlebt: Sie sei nach der Schule über den Schulhof gelaufen, ein Klassenkamerad ging hinterher. Auf einmal habe der Junge Steine nach ihr geworfen und "Zick Zack, Zigeunerpack“ gebrüllt, beschreibt Esther entrüstet. In dem Moment fühlte sie sich furchtbar: „Das war dieses Gefühl, nicht gleichwertig zu sein“ - nur ein Vorgeschmack auf ihre Zeit an der weiterführenden Schule. Esther wurde schließlich auf die Realschule versetzt.
Wie sie haben laut der Bildungsstudie aber nur elf Prozent der Befragten eine Realschule besucht, zwei Prozent ein Gymnasium. Ein wichtiger Grund dafür ist laut Daniel Strauß, dass die Eltern oft den Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen können, weil sie selbst eine schlechte Schulbildung haben. Bis in die 70er Jahre seien Sinti und Roma oft in die Sonderschule geschickt worden. Denn auch nach der NS-Zeit war das Bild verbreitet, dass sie nicht lernfähig seien.
In Esthers Familie war Bildung sehr wichtig. Ihr Vater und ihre Mutter, eine Deutsche ohne Sinti-Wurzeln, haben ihre Tochter immer unterstützt, wie sie klarstellt: „Die Hausaufgaben musste ich eigentlich nie alleine machen." Ihre Mutter habe Vokabeln abgefragt, ihr Vater half ihr vor allem bei Mathe. Bei Esther wurde in der fünften Klasse eine Rechenschwäche festgestellt. Auch in der Realschule blieben ihre Mathenoten schlecht, sie konnte diese aber mit anderen Fächern ausgleichen.
Beschimpft und beschuldigt
„Mein Klassenzimmer war auf der Seite.“ Esther zeigt auf eines der Fenster des mehrstöckigen Gebäudes. Lilafarbenes Graffiti ist an die schmutzige weiße Fassade der Realschule geschmiert, die einem Plattenbau ähnelt. Hier wollte Esther eigentlich ihre Mittlere Reife machen. Der Start auf der Realschule war sehr schön: „Ich hatte viele Freunde, ich hab mich eigentlich mit jedem gut verstanden“, beschreibt sie diese Zeit. In der achten Klasse wurde jedoch die Schule für Esther zur Qual.
Es war muffig und dunkel in der Umkleidekabine. Die Klasse hatte Volleyball gespielt und die Mädchen zogen sich um. Plötzlich sagte eine Mitschülerin, dass ihr etwas fehle - ob es ein Deo oder eine Haarbürste war, weiß Esther nicht mehr. Sie wollte ihr bei der Suche helfen, doch die Mitschülerin schnauzte sie an: „Wir wissen doch alle, wer das genommen hat.“ Sechs oder sieben Mädchen hielten sie fest, ließen sie nicht aus der Kabine raus, wollten ihre Tasche durchsuchen. „Ihr Zigeuner klaut alle, du bist genauso eine Scheißzigeunerin wie die anderen“, beschimpften sie Esther. Die 14-Jährige hatte Angst: „Das war die schlimmste Erfahrung, weil ich mich in die Ecke gedrängt fühlte." Geholfen habe ihr niemand. Nach dem Vorfall schloss sie sich in der Schultoilette ein und weinte, wollte nicht mehr in den Unterricht gehen. „Zwei Stunden später saßen die Mädels zusammen und haben gelacht, denn der Mitschülerin hat gar nichts gefehlt“, erzählt sie aufgebracht.
Solche Erfahrungen sind nicht selten. 81 Prozent der Befragten der Studie wurden in der Schule diskriminiert. Die Lehrer seien gegen Mobbing aber oft nicht vorgegangen, wie auch bei Esther. Elina Stock von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bestätigt, dass das vorkommen kann. Oft fehle das fachliche Wissen, um das Problem zu erkennen. Denn das Thema Sinti und Roma sei nicht fest in der Lehrerausbildung verankert. „Lehrer sind oft zeitlich überfordert, sich dem angemessen zu widmen“, fügt Stock hinzu.
Diskriminierung in der Schule ist laut Daniel Strauß eine der Hauptursachen für die Bildungsferne. „Wenn Mobbing stattfindet, lassen die Leistungen und der Schulbesuch nach“, verdeutlicht er. So geschah es auch bei Esther.
Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, zu schmeißen.
Nach dem Vorfall in der Umkleidekabine hatte sie keine Lust mehr, zur Schule zu gehen: „Ich hab meinen Platz in der Klasse verloren.“ Die Fröhlichkeit in ihrer Stimme hat nachgelassen, das Schmunzeln ist verschwunden. „Sticheleien und Seitenbemerkungen waren für mich an der Tagesordnung.“ Sie machte nun nicht immer ihre Hausaufgaben, schwänzte ab und zu die Schule, lernte nicht für Klassenarbeiten. „Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, zu schmeißen“, erklärt sie. Sie habe sich gefragt, wofür sie überhaupt noch zur Schule müsse, wenn sie im späteren Leben auch so behandelt werde. Trotz allem hinderte Esther ihre Vernunft daran, die Schule abzubrechen und sie wiederholte freiwillig die achte Klasse, um ihre Mathenote zu verbessern. Aber auch dann wurde es für sie nicht leichter.
Einmal zu viel
Die Sticheleien hörten nicht auf, besonders ein Junge hänselte sie immer wieder. Esther schaut in die Ferne, als sie von dieser Zeit erzählt. Sie weiß noch genau, wie sie an einem Tag in der Pause vor ihrem Klassenzimmer stand. „Scheißzigeunerin“ rief der Junge ihr hinterher. Sie spürte eine unglaubliche Wut in sich: „Das war jetzt einmal zu viel, ich lass es mir nicht mehr gefallen.“ Esther ging auf ihn zu und gab ihm eine Backpfeife. Eine Rauferei begann: Die beiden schubsten sich durch den Flur und rangelten am Ende auf dem Boden miteinander. Beide wurden dann vom Rektor eingesammelt.
In seinem Büro roch es wie in einer Bücherei, erinnert sich Esther. Sie und der Junge saßen an dem runden Tisch, der den Großteil des kleinen Raumes einnahm, gegenüber der Rektor. Der Junge habe die ganze Zeit theatralisch geheult, weiß die 34-Jährige noch. Sie versuchte sich zu erklären, doch der Rektor verdonnerte sie zu sechs Wochen Nachsitzen. Der Junge wurde nicht bestraft. Dann habe der Rektor etwas gesagt, das sie bis heute verfolgt: „Du kommst auf keinen Ausflug und keine Klassenfahrt mehr mit. Bei solchen wie dir weiß man ja nie, ob du nicht jemanden vor den Zug schubst.“
Lange blieb Esther nicht mehr auf dieser Schule. Die Versetzung habe wieder wegen Mathe gewackelt. Ihr Deutschlehrer versicherte ihr aber, dass sie in Deutsch die Zwei bekommen und versetzt werden würde. Aber es kam anders. „Esther, es tut mir leid“, sagte der Deutschlehrer zu ihr am Tag nach der Lehrerkonferenz. „Ich konnte dir die Zwei nicht geben, die wollten das nicht.“ Dieser Satz zog Esther den Boden unter den Füßen weg. Denn wer zweimal hintereinander sitzen bleibt, muss die Schule verlassen. „Die Vorstellung, keinen Realschulabschluss zu haben, war ganz schlimm für mich.“ Man merkt, wie sehr Esther diese Erfahrung getroffen hat: Ihre Stimme klingt bedrückt während sie spricht. Sie ist sicher, dass der Rektor sie nicht mehr auf der Schule haben wollte. „Ich habe Unruhe in die Klasse gebracht“, erklärt sie und verweist auf die Rauferei. Aber lag es wirklich an dem einen Vorfall, dass Esther nicht mehr auf diese Schule gehen konnte? „Mir hat das zwar nie jemand ins Gesicht gesagt,“ erinnert sie sich heute. „Aber das war mein Empfinden. Denn ein paar Monate nach der Rauferei hat sich alles zugespitzt und ich musste letztendlich die Schule verlassen.“
Zerplatzte Träume
Für ihr letztes Schuljahr besuchte Esther schließlich eine Hauptschule. Dort hatte sie zwar tolle Lehrer, aber sie langweilte sich. „Ich wusste, ich sitz das ab, damit ich einen Abschluss habe“, erzählt sie. Ihre Mittlere Reife holte Esther aber noch auf einer kaufmännischen Schule nach. Eigentlich wollte sie studieren, Journalismus oder etwas im Marketing Bereich. Die Motivation sei allerdings weg gewesen. „Große Träume und Ziele waren nicht mehr da.“
Trotz allem machte sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Zwar hat sie in dem Beruf nie gearbeitet, da sie ihn langweilig fand - aber damit erreichte sie mehr als viele andere: Denn nur etwa jeder Fünfte der befragten Sinti und Roma der Studie von 2011 hatte eine Ausbildung. Heute ist Esther Hausfrau und kümmert sich um ihren Sohn, ab und zu arbeitet sie als Visagistin. So hat sie Zeit, sich für andere Sinti und Roma einzusetzen: „Das erfüllt mich und deswegen bin ich zufrieden, so wie es ist“, erklärt sie mit einem Lächeln.
Esther sagt von sich selbst, sie habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Man merkt, wie sehr sie die Ausgrenzung von Sinti und Roma ärgert, wenn sie darüber spricht: Ihre Stimme geht nach oben, sie gestikuliert. Vor acht Jahren gründete sie mit drei anderen Sinti und einem Rom die Initiative „Sinti-Roma-Pride“, die sich für Aufklärung über Antiziganismus, bessere Bildung und gegen Diskriminierung einsetzt. Ihre Erfahrungen in der Schule haben sie dazu motiviert: „Wenn du selber Antiziganismus am eigenen Leib erfährst, prägt dich das“, schildert sie. „Das ruft dir ins Bewusstsein, dass dieses Thema noch lange nicht vorbei ist.“ Ihre Schulzeit machte sie aber auch stärker: „Ich bin unglaublich gewachsen, was mein Selbstvertrauen im Umgang mit meiner Herkunft angeht“, betont die 34-Jährige.
Bald geht Esther wieder zur Einschulung. Dieses Mal wird ihr Sohn mit seiner Schultüte zwischen den anderen Erstklässlern sitzen und sich auf seine Schulzeit freuen. Esther ist eher zwiegespalten. „Ich freu mich, dass er endlich in die Schule gehen, lernen und Freunde finden darf“, erzählt sie. Andererseits bereite ihr die Einschulung ihres Sohnes Bauchschmerzen. Denn sie hat Angst, dass er Vorurteilen begegnen wird. Sie hofft zwar, dass ihre Sorgen unbegründet sind. „Aber falls nicht, bin ich darauf vorbereitet.“