„Da hatte ich sehr große Angst, dann fing ich an zu weinen.“
Allein, mit viel Gepäck in einem Land, dessen Sprache sie nicht wirklich beherrscht:
Auf dem Weg von Berlin nach Chemnitz muss Zoey zweimal umsteigen. Am Berliner Flughafen trifft sich Zoey mit einer Mitarbeiterin des Sprachzentrums in dem Zoey Deutsch gelernt hat. Die Frau, gibt ihr lediglich einen Fahrplan, den sich Zoey mit dem Handy abfotografieren muss. Selbst im Internet nachschauen kann sie nicht. Ihr Handy besitzt noch keine Deutsche SIM-Karte. Sie muss sich darauf verlassen, dass alles nach Plan verläuft. Mit etwas Mühe findet sie das richtige Gleis und steigt ein. Laut Fahrplan hat sie neun Minuten Umstiegszeit. Bei ihrem ersten Stopp muss sie das Gleis wechseln. Mit ihrem viel zu großen, schweren Koffer und zwei Rucksäcken macht sie sich auf den Weg zum Aufzug an den Gleisen, doch der ist kaputt. Allein kann sie ihn nicht die Treppen hinuntertragen, geschweige denn wieder nach oben – zumindest nicht in der kurzen Zeit, die sie noch hat. „Da hatte ich sehr große Angst, dann fing ich an zu weinen.“ - sagt Zoey mit einem etwas peinlich berührtem Lachen. Den Zug hat sie zum Glück noch erwischt, meinte sie im Anschluss. „Ja, dann hat mir zum Glück jemand geholfen. Beim zweiten Mal Umsteigen auch.“
Als Zoey im Zug sitzt, geht ihr nur ein Gedanke durch den Kopf. „Ich kann nicht mehr.“
Zoey hat an diesem Tag bereits einen 13-Stunden Flug hinter sich. Nach diesem ganzen Stress war sie erschöpft. Bei ihrem zweiten Umstieg mit dem Zug wird ihr glücklicherweise ebenfalls geholfen. So schafft sie es schließlich nach Chemnitz. Dort lernt sie in einem Deutschkurs vier Monate das Sprachniveau B2, bevor sie Ende März 2022 ihre erste Ausbildung zur Altenpflegerin beginnen kann. Diese bricht sie allerdings nach sechs Monaten wieder ab.
„Vielleicht war unsere Familie die ärmste im Dorf“, sagt Zoey. Doch die Umstände änderten sich, als ihrer Familie von der Stadt ein Bauernhof zur Miete gestellt wurde. Ihre Familie mietete daraufhin einen Hof mit Fischen, Enten, Ziegen und Bäumen. Nach einer Weile konnte ihre Familie in ein größeres Haus mit einem Garten ziehen und sie hatten schließlich ebenfalls genug Geld für Nachhilfeunterricht übrig. So haben Zoeys Eltern sie auch bei ihrer Auswanderung nach Deutschland finanziell unterstützt.
Der Weg nach Deutschland
Nach ihrem Schulabschluss fing sie direkt in einem Sprachzentrum in der nächstgrößeren Stadt an, Deutsch zu lernen. Um nach Deutschland zu kommen brauchte sie das Sprachniveau B1. Mit diesem Sprachnachweis ist es möglich, ein Visum zu beantragen. Mit dem man eine Ausbildung zur Fachkraft beginnen kann. Das Visum ist dabei an die Ausbildung gekoppelt. Das bedeutet aber auch, ohne laufende Ausbildung verfällt nach einem halben Jahr gleichzeitig das Bleiberecht. Das gilt allerdings nur für Berufe, in denen ein „Fachkräftemangel“ herrscht. Die Unterkunft muss dabei von dem Betrieb gestellt werden und die Miete wird in der Regel vom Ausbildungsgehalt direkt abgezogen. Laut GTAI (Germany Trade & Invest) kommen pro Jahr 4 bis 6 Tausend Vietnames*innen als auszubildende Fachkraft nach Deutschland.
Die Sprachniveaus nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) reichen von A1 bis C2. A-Stufen stehen für grundlegende Kenntnisse, B-Stufen für selbstständige Sprachverwendung und C-Stufen für nahezu fehlerfreie Sprachbeherrschung.
Die Idee, nach Deutschland zu gehen, kam von ihrer Mutter. Laut ihr habe sie in Deutschland bessere Chancen und eine bessere Perspektive als in Vietnam. Zuerst war Zoey eher abgeneigt von der Idee. Allein in ein fremdes Land dessen Sprache sie nicht beherrscht? Das klang für sie nach keiner guten Idee. Nach einer Weile änderte sich das jedoch, vor allem, weil Zoey zu dieser Zeit einen Freund hatte, der ebenfalls nach Deutschland gegangen ist, um dort zu Arbeiten. Zoey fing also an sich in einem Sprachzentrum anzumelden. Innerhalb von einem Jahr und fünf Monaten absolvierte sie die B1-Prüfung mit Erfolg. Diese knapp eineinhalb Jahre verliefen aber nicht ganz ohne Komplikationen: Wegen eines Lehrermangels fielen immer wieder Unterrichtsstunden aus, weswegen sich das Lernen verzögerte. Als Zoey dann schließlich den B1-Kurs besuchte, wurde sie von Lehrern aus Deutschland unterrichtet. Einer von ihnen gab Zoey ihren Spitznamen, weil es für ihn zu schwierig war, ihren richtigen Namen „Duyênn“ auszusprechen. Diese „Namensänderung“ störte Zoey allerdings nicht. Nach der abgeschlossenen Prüfung bewarb sich Zoey schließlich als Altenpflegerin in Deutschland. Sie hatte in diesem Job bereits einen Monat lang in Vietnam gearbeitet und es machte ihr Spaß.
Für Zoey sollte die Reise nach Brandenburg in die kleine, rund sechseinhalb Tausend Einwohnergemeinde Schipkau gehen. Nachdem sie ihren Deutschkurs in Chemnitz absolviert hatte, zog sie im Frühjahr 2022 dorthin. Während ihrer Zeit in Chemnitz lebte, Zoey, da sie noch nicht arbeiten konnte, von Erspartem. In Schipkau arbeitete sie insgesamt sechs Monate, von denen sie zwei Monate lang die Schule besuchte. Im selben Jahr sah sie dort auch zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee, da es in ihrer Heimat selbst im Winter zu warm dafür ist.
„Das erste Mal sah ich Schnee, weil wir bei uns in Vietnam keinen haben."
Planänderung
Zoey beschreibt sich selbst als eine eher ruhige und zurückhaltende Person. Für sie war der Job als Altenpflegerin nahezu ideal. Das änderte sich jedoch, als wegen eines Vorfalls in ihrer Familie die Eltern Geld benötigten. Da das Ausbildungsgehalt nicht ausreichte, um sich und ihre Eltern mitzuversorgen, wollte Zoey zusätzlich einen Minijob annehmen. Gesetzlich ist das zwar erlaubt, aber weil der ÖPNV bei ihrem Wohnort nicht sehr zuverlässig war und sie im Ort selbst nichts finden konnte, war das für sie nicht möglich. Für Zoey war klar, dass sie eine andere Ausbildungsstelle finden muss. Dass sie dabei in Bad Wildbad (Baden-Württemberg) in einem Restaurant als Servicekraft landen wird, war allerdings mehr oder weniger dem Zufall geschuldet.
Bereits bei dem Sprachkurs in Vietnam lernte sie eine Freundin kennen, die sie später in Chemnitz wiedersah. Bei ihr im Betrieb ist zu dieser Zeit ein Ausbildungsplatz frei geworden und Zoey hat daraufhin sofort Kontakt mit dem Chef des Restaurants aufgenommen. Er lud sie zum Probearbeiten ein, weswegen sie drei Urlaubstage einreichen musste, um den Termin wahrzunehmen. Um Geld zu sparen, nutzte sie das zu dieser Zeit verfügbare 9-Euro-Ticket, und fuhr jeweils einen ganzen Tag hin und wieder zurück. Auf dem Hinweg bekam sie dabei gerade noch so die letzte Bahn nach Bad Wildbad.
Die Arbeit als Servicekraft ist eine ganz andere als die in der Altenpflege. Das merkte Zoey direkt an Tag eins. Der Probetag war ein Sonntag, der Tag mit den meisten Kunden im Durchschnitt. Um 11:30 Uhr ging es los. Zoey war mit einer Kollegin am „Büfett“ eingeteilt. Sie war für die Getränke zuständig und musste nebenher kleinere Aufgaben übernehmen wie zum Beispiel dreckiges Geschirr in eine Spülmaschine räumen, saubere Gläser in Regale zurückstellen, Vorräte auffüllen, oder Ähnliches. Dort fängt jeder Neuzugang an, bevor man mit der Zeit langsam herangeführt wird, mit Kunden zu interagieren. Nichtsdestotrotz empfand Zoey diesen „neuen“ Beruf als stressig. So viel Interaktion, vor allem mit Kunden, in diesem schnellen Tempo war für sie anfangs überfordernd. Zoey beschreibt sich selbst eher als ruhig und schüchtern. Nach ihrem Probetag musste sie sich deshalb noch ein paar Tage über ihren zukünftigen Weg Gedanken machen. Sie entschied sich jedoch letzten Endes unter anderem wegen ihrer finanziellen Situation gegen Schipkau und für Wildbad.
Die Arbeitszeiten in ihrem neuen Betrieb sind ebenfalls anders als die in ihrer ersten Ausbildungsstätte. Beispielsweise von 11 Uhr bis 17:30 Uhr, 11 Uhr bis 14:30 Uhr und dann wieder von 17:30 Uhr bis 22 Uhr, oder im dazugehörigen Café nebenan von 8 Uhr bis 13 Uhr und später wieder im Restaurant. Mit ihrem zusätzlichen Minijob, den sie ebenfalls dort arbeitet, bleibt natürlich nicht mehr viel Freizeit. Vor allem, weil Zoey während ihrer Ausbildung auch in die Schule muss und für Prüfungen lernt. In einem Lehrjahr müssen die Auszubildenden zwölf Wochen die Berufsschule besuchen. Im Sommer findet Zoeys Abschlussprüfung statt – dann ist sie nach drei Jahren fertig mit der Ausbildung.
In diesen drei Jahren hat sie sich mehr und mehr an ihren Minijob gewöhnt. Gerade bei dem Umgang mit Kunden war sie Anfangs nervös. Bei Essensbestellungen fragte sie oft, ob man auf der Karte auf das Gericht zeigen könne, damit sie es versteht. Der schwäbische Dialekt vieler Kunden hat das Ganze auch nicht leichter gemacht. Wenn Zoey Hilfe brauchte, ging sie immer zu ihren Kolleg*innen. Immer mit dem Satz „Kannst du mir helfen“. Man half Zoey gerne. Sie ist zwar schüchtern, aber auch freundlich. Sie versteht sich gut mit ihren Kolleg*innen. Manchmal bringt sie ihnen auch vietnamesische Süßigkeiten, die sich Zoey extra nach Hause bestellen lässt. Mit der Zeit lernte Zoey aber auch dazu. Sie wurde selbstbewusster, konnte selbstständiger Arbeiten und war immer weniger auf Hilfe angewiesen. Immer wieder gibt es ermutigende Situationen. Als Zoey einer älteren Frau ihr Essen brachte, nahm diese vorsichtig Zoeys Hand. „Ich wollte ihnen nur sagen, Sie machen das wirklich toll, ich habe wirklich Respekt vor dem, was sie machen“. Wegen diesen Momenten hat Zoey Spaß in ihrem Beruf.
Zwei Welten im Vergleich
In diesen drei Jahren sind Zoey auch viele Unterschiede zu ihrer Heimat aufgefallen. Im Grunde unterscheidet sich für sie „alles“ von Vietnam. Die zwei größten Unterschiede sind für sie die vielen Autos in Deutschland und das größere Gefühl der Gemeinschaft in Vietnam. „Bei uns zu Hause kommen öfters die Nachbarn aus unserem Dorf zu Besuch und das Nachtleben ist mehr.” Und in Vietnam fahren die meisten Menschen Roller oder mit dem Fahrrad. Am meisten vermisst Zoey ihre Familie und das vietnamesische Essen. Aus diesem Grund will sie während des nächsten Neujahrsfestes ihre Heimat besuchen.
Das vietnamesische Neujahrsfest oder auch „Tết Nguyên Đán“ genannt ist der wichtigste vietnamesische Feiertag. Es fällt mehrheitlich auf Ende Januar oder Anfang Februar. Familien kommen zusammen, um Verstorbene zu ehren und sich auf ein „glückliches“ neues Jahr vorzubereiten. Traditionelle Speisen wie „Bánh chưng“ (Klebreiskuchen) werden zubereitet, und rote Dekorationen sollen Glück bringen.
Letzten Endes bleibt nur eine Frage. Ist sie zufrieden mit ihrer Entscheidung ist nach Deutschland gegangen zu sein. Zoey, die normalerweise etwas über ihre Antworten nachdenkt, zögert keine Sekunde:
„Ja, ich habe mich noch nicht an alles, aber an vieles gewöhnt und mein Leben ist auch gut. Ich kann selbst etwas verdienen und ich kann auch selbst etwas lernen und ich habe auch jetzt mehr Freunde in Deutschland.“ Sie hofft, dass sie ihre Abschlussprüfung schafft: „Wenn ich alles schaffe, kann ich sagen, meine Entscheidung war gut.“