„Wir standen vor der Herausforderung, Kunst für Sehbehinderte und Blinde erlebbar zu machen.“
Kunst ohne Augenlicht
„Kunst ist für mich was für die Seele. Es berührt mich“, beschreibt Nicole ihre Beziehung zur Kunst. Sie hat seit ihrer Geburt eine Sehbehinderung und sieht mittlerweile weniger als zwei Prozent.
Nicole hat gelernt, sich sehr gut in ihrem Alltag zu arrangieren. Sei es das Bahnfahren, das Laufen durch die Fellbacher Innenstadt oder das Besuchen von Museen. Sie wohnt schon seit vielen Jahren in Fellbach und auch wenn sie es nicht sieht, weiß Nicole auswendig, wann sie an einer Kreuzung abbiegen muss. Die Geräusche und Wege sind ihr vertraut. Das Hupen der Bahn beim Losfahren, das Signal der Fußgängerampel und das Klappern der Schuhe auf der Straße. Ihr weißer Blindenstock mit hölzernem Griff und die Leitstreifen auf dem Boden von Fußgängerzonen erleichtern ihr den Weg.
Will Nicole ihrer Leidenschaft für Kunst nachgehen, stößt sie manchmal auf Hindernisse. Es gibt immer noch viele Kunsteinrichtungen, die noch nicht barrierefrei sind. Ihr Interesse an Kunst besteht aber nicht nur aus dem Betrachten von Gemälden oder dem Anhören von Geschichten über Audioguides. Vielmehr berühren sie die Gedanken und Empfindungen der individuellen Kunstschaffenden und die Beziehungen zu ihren Kunstwerken. Dieses Erlebnis hat sie aber nur selten.
Neues in der Staatsgalerie
„Wir standen vor der Herausforderung, Kunst für Sehbehinderte und Blinde erlebbar zu machen“, sagt Alexandra Karabelas, Leiterin des Bereichs Besuchererfahrung der Staatsgalerie Stuttgart. Stattet man dem Museum heute einen Besuch ab, könnte einem etwas Neues auffallen: Menschen mit dünnen, schwarzen Handschuhen, die die Kunstwerke des Museums abtasten. Die Staatsgalerie ist nach wie vor hauptsächlich ein Bilder- und Gemäldemuseum. Sie ist bekannt für ihre imposanten Kunstwerke und Gemälde, die eindrucksvolle Ausstellungen ergeben – zumindest für Menschen, die nicht sehbeeinträchtigt sind.
So entwickelte die Staatsgalerie ein umfangreiches Inklusionskonzept, das Menschen mit Behinderung dabei helfen soll, Kunst auf ihre eigene Weise erleben zu können. Für Menschen mit einer Sehbehinderung sind in dem Konzept zum Beispiel Tastführungen für Erwachsene oder Kreativworkshops für Kinder vorgesehen.
Das Projekt wurde über mehrere Jahre, aber vor allem intensiv in den letzten drei Jahren, geplant, entwickelt und umgesetzt. Es gab bereits davor Möglichkeiten für Sehbehinderte und Blinde, das Museum zu besuchen. Durch Audioguides erfuhren sie die wichtigsten Zahlen und Fakten zu den Kunstwerken. Allerdings war das lange nicht genug. Jetzt gibt es jederzeit inklusive Angebote für Menschen mit einer Sehbehinderung. Zum einen gibt es ein Angebot mit festgelegten Terminen und zum anderen individuell buchbare Führungen für Gruppen, zum Beispiel von Schulen oder Tagesstätten. Das Hauptelement der Führungen sind 3D-Modelle von Kunstwerken, die die Besucher*innen abtasten können. So werden Figuren wie die von Oskar Schlemmers Jahrhundertwerk „Das Triadische Ballett“ nahbarer.
„Kunst ist für mich was für die Seele. Es berührt mich.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass mich die Ausstellung so anspricht“, sagt Nicole nach dem Besuch der Erlebnistastführung für Erwachsene. Durch das Fühlen und Ertasten der Skulpturen sei sie dem Künstler Otto Freundlich viel näher gewesen. Sie verstehe, was er mit seiner Skulptur ausdrücken wollte – und sie fühle sich auch verstanden. Es entstehe dabei eine Art Beziehung zu der Künstlerin oder dem Künstler und vor allem setze sich im Kopf ein Bild zusammen.
Die Bronzeskulptur von Otto Freundlich war nicht hundertprozentig Nicoles Fall – wegen des Materials. Dennoch war der Reiz geweckt, noch mehr Kunstwerke zu erfühlen. Marmor ist für sie viel angenehmer. Trotz der eigentlichen Kälte von Marmor strahlt es eine gewisse Wärme aus. Nicole fühlt den Unterschied.
Das Entwickeln der 3D-Modelle war aber nicht die einzige Herausforderung, vor der das Projektteam des Inklusionskonzepts stand. Die ganze Infrastruktur der Staatsgalerie musste überprüft und barrierefrei gemacht werden. So wurden Schilder in Blindenschrift oder neue Geländer zum sicheren Durchqueren der Galerie angeschafft. Die Planungen schlossen auch die Webseite der Staatsgalerie ein, die mittlerweile durch Erklärvideos in Gebärdensprache barrierefreier wurde.
Fragt man sich aber, warum Konzepte wie das der Staatsgalerie immer noch oft schwer umzusetzen sind, gibt es eine plausible Antwort: Es ist oft zu teuer. Die Staatsgalerie hat deshalb Fördermittel des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Forschung erhalten, um die Umsetzung möglich zu machen.
Nicht nur Tastführungen
Seit ihrem Besuch in der Staatsgalerie ist Nicole stetig mit den Verantwortlichen in Kontakt, um dabei zu helfen, das Konzept weiterzuentwickeln. Die Tastführungen seien ein sehr guter Anfang und die ersten wichtigen Schritte seien getan, dennoch sei noch Luft nach oben. Aktuell sind Workshops mit taktilen Puzzles in Arbeit – also Puzzles, die sich nicht nur in ihrem Aufdruck, sondern vor allem in ihrer Haptik unterscheiden. So wird „Kunst im wahrsten Sinne des Wortes mit den Händen greifbar“, sagt Frau Karabelas. „Unser Publikum ist hierbei unser bester Ratgeber.“
Nicole wünscht sich, dass es zusätzlich Audiobeschreibungen für Gemälde gibt, die ganz genau erklären, was zu sehen ist. So entstehen individuelle Ideen und Vorstellungen der Kunstwerke. Leinwände zum Anfassen und Befühlen würden helfen, um zu verstehen, wie das Bild entstanden ist und wie die Kunstschaffenden beim Anfertigen vorgegangen sind. Die Tastführungen würde sie auch für sehende Menschen zugänglich machen, da Kunst so von jedem Menschen auf eine ganz neue Weise verstanden werden kann.