Leben durch die Handylinse
Es gibt diese Momente, in denen ich mir wünsche, das Smartphone wäre nie erfunden worden. Im Kino zum Beispiel: Warum muss man während einer Filmvorstellung seinen kleinen Bildschirm aus der Hose zücken, wenn es alle anderen 50 Leute im Saal schaffen auf den einen großen Bildschirm zu schauen? Und ganz besonders wünsche ich mir das bei Konzerten.
Ich war vor zwei Wochen in Berlin auf einem Konzert von Gracie Abrams, einer aufstrebenden Künstlerin aus Amerika. Dieser Tag hat mich auch im Nachhinein noch sehr zum Nachdenken angeregt. Ich war mir zwar von Anfang meiner Rolle bewusst, dass ich auf diesem Konzert einer von insgesamt drei anwesenden Männern und einer von insgesamt zehn Ü-20er sein werde. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich meine Vorstellungen von einem Konzerterlebnis so sehr von denen der anderen unterscheiden würden. Schon zwei Stunden vor Einlass standen und saßen hunderte Teenager*innen auf der Straße vor der Columbiahalle. Ich habe mitgehört, wie zwei Mädchen davon erzählt haben, seit elf Stunden hier zu warten, um sich einen guten Platz zu ergattern. Die beiden können nicht älter als 14 gewesen sein und nehmen das Ganze auch „für den Vibe“ auf sich. Ob damit das Sitzen auf Original-Berliner-Dreck und Zigarettenstümmeln zu sitzen gemeint ist, bin ich mir nicht sicher.
Doch eine Sache hat mich noch viel mehr verwundert: das exzessive Filmen während des Konzerts. In meiner Handy-Galerie sind auch Konzertaufnahmen zu finden. Drei bis vier von meinen Lieblingssongs – manchmal auch für meine Instagram-Story gefilmt. Mehr nicht. Auf Instagram, Tiktok oder X werden mir oft Videos von komplett aufgenommenen Songs in die Timeline gespült und ich habe mich immer gefragt, wer diese Leute sind, die ohne Pause filmen. Jetzt weiß ich es: die Person vor mir auf diesem Konzert. Mit einer unglaublichen Kondition hat dieses Mädchen es geschafft über eine Stunde zu filmen – Videomaterial für eine Netflix-Dokumentation. Ohne den Arm runterzunehmen, ohne austauschende Blicke mit den Freunden um sie herum und immer der starre Blick durch die Handylinse. Respekt. Wenn ich in eine Sache mal so viel Einsatz stecke, wie dieses Mädchen, dann hält mich nichts mehr auf.
Ich frage mich: Was macht sie mit diesen Videos? Schaut sie ihre Aufnahmen wirklich in ein paar Jahren wieder an und erlebt das Konzert gleich nochmal? So kann man sich auch die teuren Preise von Ticketmaster sparen. Nimm doch dein Handy runter und leb‘ einmal im Moment. Das habe ich an diesem Tag gemacht - nicht ein einziges Video. Das war zwar vor allem dem Umstand geschuldet, dass ich mich in der Menge keine Zentimeter bewegen konnte und dementsprechend mein Handy in der Hosentasche nicht erreicht habe. Aber ich habe die Musik dadurch umso mehr genießen können. Als ich dann auch an dem absurd großen Bildschirm des neuen I Phone 15 Pro Max vor mir vorbeischauen konnte, wurde der Abend durch meine Augen und Wahrnehmung zu einem eigenen Film.
Eine weitere Folge der Kolumne Gesellschaftsspiegel findet ihr hier: