„Müll wird besiedelt und bewachsen. Da kann man drüber streiten, ob man ihn aus dem Ökosystem entfernen sollte.“
The „messy“ Cleanup
Unsere PET-Flasche weiß, dass sie ins Recyclingsystem gehört. So ist das in Deutschland. Aber sie ist jetzt als Teil eines Müllexportes auf dem Weg zu einer abgelegenen Mülldeponie, irgendwo im europäischen Ausland. Tagelang passiert nichts, bis sie einen Tropfen spürt – ihr erster Kontakt mit Wasser! Es regnet und es hört lange nicht auf. So lange, bis die gesamte Mülldeponie unter Wasser steht. Und plötzlich geht alles ganz schnell: Sturmböen wehen sie in einen Fluss. Dann weiß sie nicht mehr, wo sie ist. Vor und hinter ihr ist Wasser. Und mit jeder weiteren Welle werden auch die Tiefen unter ihr unbestimmbarer.
Durch geschlossene Müllentsorgungssysteme sei es selten, dass PET-Flaschen oder Kunststoffe aus Deutschland in den offenen Ozean gelangen, erklärt Dr. Mark Lenz aus der Abteilung für Meeresökologie im GEOMAR, dem Zentrum für Meeresforschung in Kiel. Da es die nicht überall auf der Welt gibt, leiten mehr als tausend Flüsse weltweit Abfälle in die Ozeane. Der Experte schätzt, dass pro Jahr bis zu 20 Millionen Tonnen ins Meer gelangen – 0,5 Prozent der produzierten Menge. 80 Prozent davon stranden innerhalb eines Monats. Der Rest treibt auf der Oberfläche, bis er absinkt. Wie lange das dauert, hängt von der Kunststoffart ab. Unsere PET-Flasche ist schwerer als Seewasser und treibt an der Oberfläche, solange sie mit Luft gefüllt ist. Monate bis Jahre braucht es, bis sie durch die chemische Reaktion von Meerwasser und UV-Strahlung zu Mikroplastik zerfällt. Sinkt sie durch Abwärtsströmungen ab, kann sie in der Kälte und bei niedrigen Druckverhältnissen in Tausenden Metern Tiefe bis zu tausend Jahre überstehen.
Mission „Saubere Ozeane“
Für die Lebewesen im Ozean ist Plastik in jeder Tiefe ein Problem. Das realisierte der Gründer von The Ocean Cleanup (kurz: TOC) als Teenager beim Tauchen zwischen Plastik und Fischen im Griechenlandurlaub. Nach vielen Ideen und einem im Internet viral gehenden TED Talk wurde seine Vision schließlich real: „System 03“ soll 90 Prozent des treibenden Ozeanplastiks filtern. Das Plastik in den Müllstrudeln allem voran. Damit wollen sie den Einfluss des Plastiks auf das Ökosystem Meer und unsere Gesundheit reduzieren. Zeitgleich soll mit Barrieren und Filterungsmaschinen der Zustrom von Plastik durch Flüsse gestoppt werden. Angewiesen ist die niederländische Non-Profit-Organisation auf Spendengelder und plant, sich erst zurückzuziehen, wenn die Ozeane sauber sind.
Müllstrudel entstehen durch natürliche Kreisströmungen, die Wasser sowie lose Organismen und Plastikteile in ihre Mitte ziehen. Da es im Zentrum dieser Strudel keinen Ausweg gibt, sinken große Mengen Plastik in die Tiefen der Ozeane ab. Ihre genaue Größe ist schwer zu bestimmen, da sie für Drohnen und Satelliten schwer zu erfassen sind. Vorstellen lassen sie sich wie eine Suppe aus Plastikteilen verschiedener Größen, hauptsächlich aber aus Mikroplastik. Von insgesamt fünf Müllstrudeln in unseren Ozeanen ist der Great Pacific Garbage Patch (GPGP) der größte. Mit der doppelten Größe Frankreichs befindet er sich im Pazifischen Ozean zwischen Kalifornien und Hawaii.
Quellen: Dr. Mark Lenz, BBC
Jede Idee kommt mit Kritik
Plastik aus den Meeren zu filtern, klingt gut. Viele Experten, wie Mark Lenz, sehen den Einsatz der „Plastic Removal Technologies“ (kurz: PRTs) jedoch kritisch. Zwar verbessern sie die Lebensraumqualität der Ozeanbewohner und verringern das Risiko, dass Arten Mikroplastik aufnehmen oder daran sterben, doch zeitgleich beeinträchtigen unselektive Sammelmethoden – beispielsweise Netze, die die Oberfläche absammeln – die biologische Vielfalt. Dabei geht es um Kleinstlebewesen und Algen, die wichtig für die nährstoffbegrenzten Ökosysteme der Meere sind und als Nahrung dienen. Einen Punkt finden viele Forschende außerdem interessant: „Müll wird besiedelt und bewachsen. Da kann man drüber streiten, ob man ihn aus dem Ökosystem entfernen sollte.“ Unsere Flasche hat das am eigenen Leib erfahren. Sie ist im offenen Ozean zu einem neuen Lebensraum geworden: Eine Anemone hat sich nahe der Küste auf ihr angesiedelt und treibt nun mit ihr in unbekannte Gewässer. Dazu gelangen oft Fische statt Flaschen ins Netz, weswegen viele Forschende Regeln für den Beifang fordern. Auch Umweltverträglichkeitsprüfungen könnten helfen, die Auswirkungen und den Nutzen der Systeme zu beurteilen, obwohl dies laut Lenz schwierig sei. Denn auch der Verbleib von Plastik im Meer hätte verheerende Folgen.
All diesen Stimmen steht The Ocean Cleanup offen gegenüber. Sie wüssten, dass Kritik an neuen Entwicklungen normal ist und würden diese nutzen, um sämtliche Auswirkungen zu minimieren und einen maximalen Nutzen für die Meeresumwelt und ihre Bewohner zu erzielen. Dies tun sie zum Beispiel durch Kameraüberwachung sowie eine Notluke im Netz des Systems. Mitgefangene Tiere entlassen sie zurück ins Meer, spätestens beim händischen Sortieren des Mülls. Bezüglich der Kleinstlebewesen sind sie sich aber uneins mit vielen Forschenden. Sie sehen die Arten im GPGP durch invasive Arten, die wie die Anemone auf der Flasche übergesiedelt sind, in Gefahr und darin die Notwendigkeit des Filterns. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung hätten sie sogar durchgeführt: Ihr System sei ohne Risiko.
Ein Projekt mit Rucksack
Zwei Schiffe, die ein großes Netz durch die Meere ziehen, kommen natürlich nicht ohne Last: den ökologischen Rucksack und die Kosten. Ersterer besteht hauptsächlich aus dem Ausstoß klimaschädlicher Gase, die Kosten entstehen durch die Herstellung und Wartung des Systems sowie den Betrieb. Um das schwimmende Plastik aus den Meeren zu entfernen, müsste man das Ganze für 200 Systeme im Dauerbetrieb sowie zusätzliche Flussbarrieren bis zum Jahr 2150 berechnen. Das ist das Ergebnis britischer und deutscher Forschender, die Kosten und Erfolg der Idee analysierten. Andere Forschende sehen nur einen Nutzen, wenn Reinigungssysteme gezielt eingesetzt werden. „Zum Beispiel in der Bucht von Jakarta“, schlägt Herr Lenz vor. Die Daten, die bei der Forschung des Projekts erhoben werden, seien allerdings von hohem Wert. Genauso wie die positive Aufmerksamkeit, die durch TOC auf die Plastikverschmutzung gelenkt wird. Dennoch bleibt die Befürchtung, dass den Menschen die Plastikentfernung zu einfach vorkommen könnte.
Dass die Lösung des Problems nicht nur eine ist, weiß auch TOC. Mit ihren Interceptors filtern sie Abfälle aus den Flüssen, obwohl diese wegen ihrer Auswirkungen auf Ökosysteme ähnliche Kritik ernten. Weitere Kritik gab es für Spendengelder aus der Kunststoffindustrie und die Kooperation mit The Coca-Cola Company, einem großen Verursacher der Plastikverschmutzung. Bei 239 Strandreinigungen konnten laut Greenpeace eine Vielzahl der gefundenen Flaschen Coca-Cola zugeordnet werden – der Rest schwimmt im Meer. Diese Tatsache sieht The Ocean Cleanup jedoch nicht als Problem. Nach eigener Angabe sei es für sie ein Eintritt in das „globale Netzwerk von Lieferanten, Abfallmanagern und Verarbeitern“. Wo andere eine Möglichkeit zum Greenwashing sehen, hofft TOC zukünftig auf mehr Unternehmen, die mit ihnen die Plastikverschmutzung bekämpfen.
Für unsere Flasche bleibt fraglich, ob es sich lohnt, das Problem auf der letzten Ebene anzugehen. Die Filterung des Mülls aus den Gewässern ist zwar wichtig, aber man darf ihre Herkunft nicht vergessen. Ihr Weg und der Weg anderer Abfälle in den Ozean muss gestoppt, das Recycling verbessert und das Müllmanagement optimiert werden, um weiteren Schaden für die Umwelt zu verhindern. Das wäre ihr wichtig. Denn der Schaden, den der Mensch angerichtet hat, geht mittlerweile über das Plastik im Ozean hinaus. Nun müssen wir uns beim Reinigen auch Gedanken über Arten im Ozean machen, die ohne uns und das Plastik niemals dort sein würden. Aber Lenz fasst gut zusammen: „Bei Umweltproblemen gibt es meist keine einfache Lösung.“