„Die digitale Lösung ist natürlich keine Lösung, sondern eine Möglichkeit, den Chor überhaupt fortzuführen.“
Gemeinsam singen trotz Pandemie
Kilometer entfernt und doch nah aneinander, Kachel an Kachel, trällert man gemeinsam vor sich hin. Aufrecht stehe ich in meinem Zimmer und schaue auf meinen Laptop. Ich freue mich zwar, endlich wieder mit anderen Menschen singen zu können, doch das für den Chor wesentliche Gefühl von Gemeinschaft fehlt mir. Die anderen höre ich nicht, da sie auf stumm geschaltet sind. Nur die Stimme und Klavierbegleitung von Chorleiter Jonas Wolf sind zu hören. Jonas lehrt an der Hochschule für Musik in Karlsruhe und leitet unter anderem den Chor der dortigen Evangelischen Studierendengemeinde (ESG).
Als er mich zu seinem Virtual Choir Projekt des ESG-Chors einlud, war ich ganz verdutzt. Virtuelles Chorsingen – wie soll das funktionieren? Er erklärt, dass virtuelle Chöre insbesondere seit Corona Konjunktur gewonnen haben. „Letzten Endes sehe auch ich sie als Überlebenshilfe für alle, die gerne singen.“ Ich wurde sehr neugierig und hatte große Lust darauf, endlich mal wieder bei einem Chorprojekt mitzumachen. Jonas schickt mir Noten und sogenannte Referenztracks. Bei den Noten handelt es sich um das Lied „Kids“ von Robbie Williams und die Referenztracks sind Audioaufnahmen von Jonas, in denen er die einzelnen Fragmente des Liedes vorsingt.
Das Zuhause wird zum Tonstudio
Mithilfe der Noten und Referenztracks übe ich das Stück, um meinen Gesang später aufzunehmen. Jonas bastelt dann aus den Aufnahmen der ESG-Chormitglieder und aus meinen eigenen eine mehrstimmige A capella-Version. In den darauffolgenden Tagen läuft „Kids“ in Dauerschleife. Dieses Lied ist nur eines von Jonas‘ insgesamt 18 Arrangements zu Songs von Robbie Williams und ich muss zugeben, dass ich es davor nicht gekannt habe. Ich kann mir auch noch nicht wirklich vorstellen, wie sich all das am Ende anhören wird.
Das Lied lerne ich recht schnell, doch die Aufnahmen sind eine richtige Herausforderung. Normalerweise hat man als Chor Proberäume, in denen man sich gesanglich austoben kann, doch ich bin zu Hause bei meiner Familie. Verzweifelt suche ich nach einer einigermaßen akzeptablen Akustik und entscheide mich für das Badezimmer. Auf den Wäschekorb stelle ich meinen Laptop, schließe meine Kopfhörer an und greife nach meinem Smartphone, um die Aufnahme zu starten. In mein linkes Ohr strömt die Musik der Referenztracks und mein rechtes Ohr lasse ich frei, um meine eigene Stimme hören zu können. Nun öffne ich auf dem Laptop die Noten und es kann losgehen. Ein paar Minuten später, ich hatte nicht einmal die erste Passage aufgenommen, fängt der Warmwasserspeicher an zu brummen und es kommt zu einem ungebetenen Duett. Als mein Duettpartner sich beruhigte, klopfte es kurz darauf an der Badezimmertür und mein siebenjähriger Bruder fragt, was ich da mache. Auch meine zwei anderen Geschwister finden diese Szene komisch und ich entschließe mich, in den Keller zu gehen. Zwischen leeren Kartons, einem Fahrrad und unzähligen Kisten, gefüllt mit allem möglichen Schnickschnack, stehe ich nun, stelle mein Equipment auf ein altes Regal und fange an zu singen.
Der Stuttgarter Hymnus-Chor übt digital
So ähnlich machten es die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben, bis auf das Detail mit dem Keller. „Die digitale Lösung ist natürlich keine Lösung, sondern eine Möglichkeit, den Chor überhaupt fortzuführen“, erklärt Chorleiter Rainer Johannes Homburg. Er beschloss bereits zu Beginn der Pandemie, zum Online-Format zu wechseln, indem er für seine Sänger Tutorials erstellte. Er setzte sich an sein Klavier und sang die Stücke den Chorknaben per Videoaufnahme vor. Im Anschluss spielte er für sie noch eine Klavierbegleitung, sodass die Sänger ihre Stimmen zu Hause aufnehmen konnten. Die Aufnahmen schickten sie darauf ihrem Chorleiter und er gab ihnen dazu ein Feedback. „Das waren viele, viele Minuten Musik“, erwähnt Rainer Homburg lachend. Als es mit dem digitalen Schulbetrieb losging, wechselte der Hymnus-Chor auf Zoom. „Der Vorteil in der ganzen Pandemie-Phase ist, dass die Leistungsfähigkeit des Einzelnen eine viel größere Rolle spielt“, erzählt Rainer Homburg. „Den Effekt, dass die 20 anderen Sänger mich schon mitziehen, gibt es nun mal nicht mehr.“ Vor der Pandemie hatte der Hymnus-Chor über 200 Mitglieder, momentan sind es 176 Sänger und sie suchen Nachwuchs.
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Das Zuhause wird zum Filmstudio
Der letzte Schritt für das „Kids“-Projekt besteht nun darin, ein Video von mir selbst aufzunehmen. Dafür bekomme ich von Jonas ein „Modellvideo“, bei dem auch schon der fertige Mix der einzelnen Aufnahmen zu hören ist. Während er für die Männerstimmen demonstriert, wann man einsetzen soll, orientiere ich mich an seiner Schwester. Bei den Videos steht vor allem die emotionale Anteilnahme im Vordergrund – bei so einem peppigen Lied wie „Kids“ kein Problem. Da am Ende des Videos alle Aufnahmen übereinandergelegt werden und man uns deshalb doppelt hört, habe ich zwei Videos aufgenommen. Dazwischen gibt es einen Outfit-Wechsel und auch meinen Hintergrund ändere ich ein wenig. So soll die Illusion entstehen, dass zum Schluss nicht nur 30, sondern 60 unterschiedliche Menschen singen würden.
Robbie Williams gehört zum ESG-Chor
Der ESG-Chor ist über die Pandemie geschrumpft. Bei seinen digitalen Chorproben, die montagabends stattfinden, sind ungefähr zehn Mitglieder dabei, doch nicht alle haben ihre Kamera angeschaltet. Jonas sitzt am Klavier und begrüßt uns. „Ich hoffe, ihr hört mich alle!“ ist ein Satz, der dabei natürlich nicht fehlen darf. Nachdem wir uns alle auf stumm geschaltet haben, geht es ans Einsingen. Ich richte mich auf und hoffe, die ältere Dame von nebenan würde bereits tief und fest schlafen. Jonas macht ein paar Übungen vor. „Gemeinsam“ strecken wir uns und klopfen uns ab, um unser Instrument aufzuwecken. Es folgen Übungen mit Vokalen, Lippenflattern und lustigen Sätzen. Mit gerolltem R und nach vorne gestülpten Lippen singen wir „Rote Rosen krönen fröhlich König, Königin und Königssohn!“. Die Tonhöhe und Lautstärke steigern sich von Wiederholung zu Wiederholung.
Nun teilt Jonas seinen Bildschirm mit uns und zeigt sein Arrangement für „Misunderstood“ von Robbie Williams. Die vier Hauptstimmlagen Sopran, Alt, Tenor und Bass bekommen jetzt jeweils einen zehnminütigen Einzelslot, bei dem die Partien geübt werden. Zwischendurch fragt Jonas immer wieder, welchen Teil wir wiederholen sollen. Er kann unseren Gesang ja nicht hören und muss sich deshalb an unseren Rückmeldungen orientieren. Zum Schluss singen wir dann auf Wunsch des Chores alle, jedoch weiterhin auf stumm geschaltet, „Angels“ von keinem anderen als Robbie Williams.
Das Online-Format bietet neue technische Möglichkeiten und überraschende Wege, sich musikalisch auszudrücken. Neben dem Einsatz von Audioeffekten, kann man auch Töne und Rhythmen korrigieren. „Am Schluss hat man das Endergebnis auf einem besseren Level, als es in Live wäre“, erklärt Jonas. Auf die Frage, ob virtuelles Chorsingen das echte Chorsingen jemals ersetzen könnte, antwortet er: „Niemals, auf keinen Fall. Doch ich habe an diesen digitalen Projekten so einen Spaß gefunden, dass ich sowas auch immer wieder machen möchte – selbst wenn echtes Chorsingen wieder möglich sein wird.“ Da das Projekt nun fertig ist, verstehe ich auch warum. Die Freude ist riesig. Nah aneinander, Kachel an Kachel, und doch so fern voneinander, singen und tanzen wir gemeinsam. Die Harmonien vereinen uns.