Hypochondrie 5 Minuten

Wenn Gesundheit krank macht

Person vor dem Spiegel, schaut sich kontrollierend an; Text: "...aber was ist, wenn ich wirklich krank bin?"
Der Blick in den Spiegel – für Betroffene der Hypochondrie oft eine Qual. | Quelle: Marilena Wolf

Inhaltswarnung für Leser*innen:  
Dieser Artikel behandelt das Thema psychische Gesundheit. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.

21. Mai 2025

Hypochondrie ist mehr als übertriebene Sorge – sie ist eine psychische Erkrankung mit enormem Leidensdruck. Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Körper zum Feind wird? Und was hilft, wenn selbst Ärzte keine Sicherheit mehr bieten?

Ein typischer Morgen. Gestresst von den Aufgaben, die an diesem Tag anstehen und in Gedanken ständig bei seinen Angstgedanken sitzt Benjamin im vollen Bus auf dem Weg zum Praktikum. Um ihn herum ein Meer aus Stimmen. Plötzlich verschwimmen die Stimmen immer mehr, bis er sie kaum mehr wahrnimmt. Er spürt ein Gefühl, was er bisher noch nicht kannte – Todesangst. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen, seine Kehle schnürt sich zu, das Atmen wird schwerer. Sein einziger Gedanke: „Ich muss hier raus!“ An diesem Morgen erlebte Benjamin Alfons seine erste Panikattacke. Jahrelang litt er an Hypochondrie, bis ihm dieser Moment, indem er dachte, zu sterben, die Augen öffnete.

Hypochondrie ist eine Form der Angststörung, bei der übermäßige Sorgen zu erkranken oder bereits krank zu sein im Mittelpunkt stehen“, erklärt Klara Hanstein.  Sie ist klinische Psychologin aus Österreich und begleitet Betroffene auf ihrem Heilungsweg. Der Ursprung der Erkrankung liege meist in einem Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. „Beeinflussende Faktoren können beispielsweise frühere Erfahrungen mit Krankheit im familiären Umfeld, traumatische Erlebnisse oder auch eine ängstliche Persönlichkeit sein.“, führt sie aus.

Infografik mit den Symptomen einer Hypochondrie.
Ein Teufelskreis: Die Symptome der Hypochondrie beeinflussen sich gegenseitig.
Quelle: Onmeda

Menschen mit Hypochondrie nehmen normale körperliche Empfindungen als gefährliche Krankheitssymptome wahr, was bei den Betroffenen einen enormen Leidensdruck auslöst. Die ständige Selbstbeobachtung und die Interpretation kleinster körperlicher Veränderungen als gefährlich, sind nur einige Symptome der Erkrankung. Betroffene suchen zudem oft nach Bestätigung, dass sie gesund sind. Auch Benjamin suchte lange Sicherheit im sozialen Umfeld: „Ich habe mich viel reingesteigert, habe nach Bestätigung gefragt und war immer im Horrordenken drin.“ Laut Klara Hanstein sei es für Betroffene oft schwer zu verstehen, dass „nur“ die Psyche hinter ihren Symptomen steckt. Die Bestätigung der Ärzt*innen gebe ihnen zwar eine kurzfristige Beruhigung, diese würde jedoch meist nur kurz anhalten – ein Teufelskreis. „Wichtig ist zu verstehen: Die Angst ist echt. Es geht darum, Angst ernst zu nehmen, da ein sehr hoher Leidensdruck besteht.“, betont sie.

Dr. Google ist keine Lösung

Auch das ständige Googeln körperlicher Symptome gehört zur Krankheit. Die Psychologin erklärt, dass Betroffene sich auch hier durch das Recherchieren im Internet Bestätigung erhoffen, doch genau diese Bestätigung bleibe bei der Suche im Internet meist aus. Benjamin suchte lange online nach Rückversicherung – doch die ständige Recherche machte alles schlimmer. Das Gefühl der Hilflosigkeit wurde immer stärker. „Im Endeffekt ist es ein Hilfeschrei, da man sich durch das Googeln eine Bestätigung wünscht, dass alles okay ist, man aber genau das Gegenteil findet.“, erzählt er. Klara Hanstein erklärt, dass Gesundheitsinformationen im Internet die Wahrnehmung massiv verzerren können. Durch die ständige Konfrontation mit Gesundheitsinformationen im Internet würden Betroffene ein übersteigertes Bild von Häufigkeit und Bedrohlichkeit bestimmter Krankheiten erhalten. Zudem würden besonders persönliche Krankheitsgeschichten in einigen Fällen verstärkend auf die Angst wirken.

„Kontrolle und Unsicherheit spielen wahrscheinlich immer die größte Rolle. Hypochondrische Menschen haben enorme Schwierigkeiten mit Unsicherheiten und allem, was nicht in ihrer Kontrolle liegt, umzugehen.“, sagt Benjamin. Auch er hat mit häufigen Arztbesuchen versucht, das Gefühl der Hilflosigkeit zu betäuben, doch langfristig erzielte das wenig Wirkung: „Mein Arzt hat natürlich gesagt, dass er mir zwar wieder Bestätigung geben kann, aber dass es mir langfristig nichts bringen wird. Ich habe mich erst dann verstanden gefühlt, als ich herausgefunden habe, dass es tatsächlich eine hypochondrische Angst ist, die nicht nur ich habe, sondern ganz viele Menschen in Deutschland. Leider spricht jedoch keiner darüber.“ 
Viele Betroffene würden sich für ihre Angst schämen, da viele Menschen die Ängste der Betroffenen für übertrieben halten, bestätigt Klara Hanstein. Die Erkrankung sei gesellschaftlich mit vielen Vorurteilen verbunden, wie etwa: „Die wollen nur Aufmerksamkeit“ oder „Die bilden sich das nur ein“. Hypochondrie sei jedoch eine ernstzunehmende Erkrankung, und niemand entscheide sich freiwillig dazu, ständig Angst zu haben, betont Hanstein. 

„Wahre Stärke bedeutet, sich Hilfe zu suchen, wenn man nicht mehr weiterweiß.“

Benjamin Alfons

Laut der Expertin seien psychische Erkrankungen häufig von außen nicht sichtbar, was es den Betroffenen erschwere, sich Hilfe zu suchen. „Der eigentliche Leidensdruck, der in einem herrscht, wird nicht sichtbar.“, erklärt Benjamin. Ihm sei es anfangs schwergefallen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch die Panikattacke während der Busfahrt öffnete ihm die Augen. Die Todesangst, die er in diesem Moment spürte, markierte einen Wendepunkt. Er entschied sich daraufhin professionelle Hilfe anzunehmen und an sich und seiner Angst zu arbeiten. „Wahre Stärke bedeutet, sich Hilfe zu suchen, wenn man nicht mehr weiterweiß.“, betont er.

Vertrauen statt Kontrolle

Psychotherapie kann bei der Bewältigung helfen. Dabei steht im Fokus, die krankheitsbezogenen Gedanken zu hinterfragen, einen gesunden Umgang mit Körpersignalen zu finden und neue Strategien im Umgang mit Unsicherheit zu erlernen. Laut Klara Hanstein sei es außerdem wichtig, Sicherheitsverhalten wie etwa übermäßiges Googlen schrittweise zu reduzieren. Das Ziel sei es, Stück für Stück das Vertrauen in den eigenen Körper und ins Leben zurückzugewinnen. Die Erkenntnis: „Ich habe nicht nur ein körperliches Symptom, ich habe auch Angst.“,  kann dabei helfen, einen gewissen Abstand zu den eigenen Gedanken zu schaffen. Das Umlenken der Aufmerksamkeit und der Einsatz von Achtsamkeitstechniken können zudem unterstützend wirken. Auch für Benjamin sind Akzeptanz, Bewusstsein und Vertrauen wichtige Punkte im Umgang mit der Hypochondrie. Er betont, dass es für ihn sehr wichtig gewesen sei, zu lernen, nicht gegen die Angst anzukämpfen. Durch die Akzeptanz und das bewusste Hinterfragen der Gedanken hat er es geschafft, immer mehr Abstand zur Angst aufzubauen und den „ängstlichen Anteil“ in sich zu akzeptieren. Ihm nicht mehr die Kontrolle über sein Leben zu geben.

Benjamins Geschichte zeigt, dass es einen Weg raus aus der Angst gibt. Er hat es durch intensive Arbeit an sich und professioneller Hilfe geschafft, einen Umgang mit der Krankheitsangst zu finden. „Heute ist es so, dass ich mehr in meine Gesundheit, meinen Körper und das Leben im Allgemeinen vertraue.“, lächelt er. Seit dem Morgen im Bus, an dem er dachte zu sterben, hatte er keine Panikattacke mehr und arbeitet heute als Wegbegleiter für andere Betroffene. Er möchte ihnen Mut machen, den ersten Schritt in Richtung Heilung zu wagen.