„Ich glaube jeder kann hier die Chance bekommen, das zu tun, was man will.“
Allein in einem fremden Land
Es ist früh am Morgen. Draußen ist es noch dunkel und die Straßen sind so gut wie leer. Für die 25- jährige Mariam Kaddoura beginnt ein langer Tag. Schule, Deutschkurs, Arbeit und zusätzlich noch ehrenamtliche Tätigkeiten, so sieht der Tagesablauf der jungen Frau aus. Vor mehr als fünf Jahren wurde sie von ihrer Familie getrennt und ist seitdem auf sich selbst gestellt.
Mit gerade mal 16 Jahren floh Mariam mit ihrer Familie aus Damaskus, der Hauptstadt von Syrien. Als ihr Vater ein Visum für Österreich bekommen hatte wurde sie gerade 18 Jahre alt. Da sie als älteste von fünf Geschwistern die Einzige war, die schon als volljährig galt wurde sie von ihrer Familie getrennt und durfte nicht mit ihnen nach Österreich ziehen. Ab diesem Zeitpunkt war Mariam komplett auf sich allein gestellt. Ihr Weg führte sie von Syrien in den Libanon über Ägypten nach Dubai, bis sie 2019 in Deutschland ankam. „Es war sehr schwer für mich, erneut ganz allein in ein fremdes Land zu kommen, in dem ich die Sprache nicht kenne“, erinnert sich Mariam. Die Willkommenskultur der Landeshauptstadt will Flüchtlingen wie Mariam die Ankunft in Stuttgart erleichtern. In Stuttgart gibt es viele Vereine und Organisationen, die Geflüchteten bei ihrem Integrationsweg helfen. Dies macht die Grundsatzentscheidung der Stadt mit dem „Stuttgarter Weg“ deutlich.
Integration ist ein gegenseitiger Prozess, der sich einerseits an die Menschen richtet, die in ein fremdes Land kommen, andererseits aber auch an die aufnehmende Gesellschaft der Stadt. In Stuttgart leben laut Stuttgarter Flüchtlingsbericht mittlerweile Menschen aus über 170 Nationen.
Die Zahl der Flüchtlinge in Stuttgart stieg laut Stuttgarter Flüchtlingsbericht 2019 von rund 2500 im Jahr 2014 auf rund 8500 Flüchtlinge im Jahr 2016. Im Jahr 2019, in dem auch Mariam nach Stuttgart kam, lebten in der Landeshauptstadt 6.400 Geflüchtete. Davon kamen mehr als 1.620 aus Syrien. Syrien war 2019 das häufigste Herkunftsland der Flüchtlinge.
Integration durch Ausbildung
Bevor Mariam nach Deutschland kam, hatte sie bereits die Chance im Libanon eine Ausbildung als Grafikdesignerin abzuschließen und konnte somit schon ein Jahr an Berufserfahrung sammeln. In Stuttgart angekommen hat sie dann direkt einen Deutschkurs belegt, um sich so schnell wie möglich zurecht finden zu können. „Ich wollte immer arbeiten, aber zuerst wollte ich die deutsche Sprache lernen“, berichtet sie.
Derzeit arbeitet Sie als selbständige Grafikdesignerin, besucht weiterhin einen Deutschkurs und geht nebenher noch auf eine wirtschaftliche Schule in Vaihingen. Ab September beginnt sie eine Ausbildung bei Ikea als Gestalterin für Visuelles Marketing. „Als ich meine Ausbildung bekommen habe, war das meine große Chance, endlich in Deutschland Fuß zu fassen“, erzählt Mariam begeistert.
Eine große Hilfe bei ihrer Integration in einem fremden Land war vor allem ihre eigene positive Einstellung. Mariam erzählt, dass sie immer versucht habe, ihren Neuanfang in Stuttgart als eine Chance auf ein besseres Leben zu sehen. Sie schätzt sich außerdem sehr glücklich, dass sie hier mittlerweile durch die Schule und die ehrenamtliche Arbeit viele Freunde finden konnte, die sie stets unterstützten. Mit einer Freundin zusammen geht sie regelmäßig in Kunstmuseen und besucht andere Einrichtungen, die sie der deutschen Kultur näherbringen. Mariam wurde erzählt, dass es in Deutschland schwierig sein kann, mit Kopftuch eine Arbeit zu finden. „Bei meiner Bewerbung bei Ikea hat es keine Probleme gegeben“, betont sie. Die Menschen seien immer sehr freundlich und hilfsbereit gewesen. Denn sowohl in der Schule als auch im privaten Bereich, habe sie nie negative Erfahrungen erleben müssen oder sei aufgrund ihrer Religion diskriminiert worden.
Mariam gibt zu, dass es Momente gab, in denen sie aufgeben wollte. Ihre größte Herausforderung ist es, eine Wohnung zu finden, erzählt sie. Denn aktuell teile sie sich ein kleines Zimmer mit einem anderen Mädchen. Dort habe sie kaum Zeit für sich und es sei oft laut. Das mache das Lernen schwer. Mariam hofft, dass sie mit ihrer Ausbildung bessere Chancen auf eine eigene Wohnung hat. Doch nicht nur ihre Wohnsituation mache ihr zu schaffen. Auch die Trennung von ihrer Familie belaste Mariam. Deshalb verplane sie ihre Zeit mit der Schule, dem Deutschkurs und ihrer Arbeit als Grafikdesignerin. „Ich habe sehr viel gemacht, also meine Zeit war immer voll, damit ich nicht zu viel Zeit zum Nachdenken habe.“
AWO als Unterstützung
Einmal wöchentlich trifft sie sich mit einer Flüchtlingshelferin der AWO. Die Arbeiterwohlfahrt, kurz „AWO“ genannt, steht seit über 100 Jahren als Zeichen für das Engagement für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, unabhängig von deren Herkunft sowie politischen oder religiösen Überzeugungen. Sie haben ihr beim Ausfüllen ihrer Papiere geholfen, beim Lernen der Sprache und unterstützen Mariam bei ihrer Wohnungssuche. „Ich glaube jeder kann hier die Chance bekommen, das zu tun, was man will“, berichtet Mariam. In den wöchentlichen Treffen mit der Flüchtlingshelferin spricht Mariam über ihre Erlebnisse und alte traumatische Erfahrungen ihrer Flucht. Mariam erinnere sich jedoch nur ungern an ihre Vergangenheit in Syrien. „In Syrien habe ich viele meiner Familienmitglieder verloren. Sie wurden entweder ermordet oder sind gestorben“, berichtet sie traurig.
Einen Plan für die Zukunft zu machen ist für Mariam schwierig, da sie seit zehn Jahren nie länger als zwei Jahre in einem Land gelebt hat. Nach Syrien zurückzugehen komme für sie eher nicht in Frage, weil sie dort niemand mehr habe. Nach Österreich zu ihrer Familie zu ziehen könne Mariam sich vorstellen. Doch wenn es möglich ist, wolle sie in Deutschland bleiben. Denn Deutschland sei wegen der sicheren politischen Lage das erste Land, in dem sie keine Angst habe, allein zu sein. Mariam betont, dass sie sich hier wohl fühle, denn sie habe in Stuttgart viele Freunde gefunden. Außerdem sei Stuttgart nicht weit weg von ihrer Familie und Mariam könne sie besuchen, wann immer sie Zeit dafür habe. Ihr gefalle gut, dass es in Stuttgart viele Bildungsmöglichkeiten gebe. Ihr größtes Ziel ist es ihre Ausbildung schnell und erfolgreich zu beenden und danach einen guten Job zu bekommen. Über persönliche Ziele habe sie sich bisher kaum Gedanken gemacht: „Ich habe eigentlich fast immer nur über die Arbeit nachgedacht und wie ich mein Leben hier verbessern kann.“
„Eigentlich ist es eine gute Erfahrung, weil jetzt kann ich immer alles allein schaffen.“
Anderen Flüchtlingen, die versuchen sich in Stuttgart einzufinden, rät Mariam vor allem geduldig zu sein. Denn die Integration in einem fremden Land sei immer eine Herausforderung. Die Sprache sei schwer zu lernen, aber mit der Zeit werde es besser. Grundsätzlich bemühe sich Mariam nicht negativ zu denken, sondern immer weiter zu versuchen sich zu integrieren. Über ihre Situation allein in einer fremden Stadt zu sein sagt sie: „Eigentlich ist es eine gute Erfahrung, weil jetzt kann ich immer alles allein schaffen.“