„Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“
Hilfe oder Verrat – wenn das Überleben von Beziehungen abhängt
Sonntag, 7:30 Uhr. Acht Personen auf knapp 40 Quadratmetern Wohnfläche. Die Luft ist stickig. Die Rauchschwaden des Ofens finden nur gelegentlich ihren Weg nach draußen. Viel zu selten dürfen die Fenster geöffnet werden. Das Zimmer teilst du dir mit einem, für dich, fast fremden Mann. Darauf, dass du leise auf Socken ins Badezimmer schleichen kannst, musst du warten. Mal wieder war jemand anderes schneller als du. Auf jeden deiner Schritte folgt die Überlegung: Hat man etwas gehört? Den Vormittag verbringst du in der Küche, in der gleichzeitig sieben weitere Personen ihre freie Zeit verbringen. Es kommt zum Streit mit deiner Mutter. Du fühlst dich unverstanden – wieder einmal. Am liebsten würdest du in dein Zimmer rennen, die Tür zuschlagen, deine Wut herausschreien oder zu einer Freundin fahren – all das ist aber nicht möglich. Viel zu gefährlich. Wann du wieder auf die Straße gehen kannst, weißt du nicht, nur dass der morgige Tag ähnlich aussehen wird. Und übermorgen auch.
Leben im Hinterhaus
Den Alltag von Anne Frank kann man sich nur schwer vorstellen. 761 Tage lang hat sie sich zusammen mit ihren Eltern, ihrer älteren Schwester Margot und dem Ehepaar van Pels und ihrem Sohn Peter, im Hinterhaus versteckt. Nach wenigen Wochen kam der Zahnarzt Fritz Pfeffer dazu, mit dem Anne sich das Zimmer teilte. 761 Tage, in denen die Bewohner auf engstem Raum ihren Alltag bewältigen mussten. Einen Alltag, der von der Angst bestimmt wurde, von den Nazis entdeckt und in ein Konzentrationslager abgeschoben zu werden. Wo Angst und Unsicherheit das Leben bestimmen, sind Konflikte nicht weit. Angespannte Stimmung macht sich breit, die das Zusammenleben massiv beeinträchtigt. Die Netzwerkanalyse konzentriert sich vor allem auf die Beziehungen von Anne, weil eine Veränderung in diesem Ausmaß in der Pubertät besonders stark ins Leben und in die Gefühlswelt eingreift. Da es bislang noch keine vergleichbaren Netzwerkanalysen zu diesem relevanten Thema gibt, lag der Fokus weniger auf der historischen Geschichte, sondern viel mehr auf den Beziehungen der Untergetauchten. Dabei beziehen sich die Daten überwiegend auf das Tagebuch von Anne Frank, welches auf subjektiven Wahrnehmungen basiert. Die Möglichkeiten valide Behauptungen zu treffen, werden dadurch eingeschränkt.
Das jüdische Leben wird gefährlicher
Bis zu ihrem Umzug ins Hinterhaus erlebt Anne eine unbeschwerte Kindheit. 1929 kommt sie in Frankfurt zur Welt und zieht fünf Jahre später mit ihrer Familie nach Amsterdam. In ihren ersten Lebensjahren ist die Bindung zu ihrer Familie sehr eng – was aber vor allem damit zu tun hat, dass man im Kleinkindalter stark von den Eltern abhängig ist. Außerdem pflegt sie konstanten Kontakt zu ihren Großeltern, sowie anderen engen Verwandten. Als Anne in die Schule kommt, wird ihr Freundeskreis durch einige Klassenkamerad*innen vergrößert, was an der großen Ansammlung an Knoten zu erkennen ist. Zudem lernt sie hier Hannah Gosslar-Pick kennen. Die beiden verbindet eine tiefe Freundschaft – die sogar die Zeit im Hinterhaus überlebt. Später im Konzentrationslager sehen sich die beiden nochmal am Zaun. Es scheint, als führe Anne Frank das ganz normale Leben einer 12-Jährigen. Doch was sich in Deutschland schon eher abzeichnete, machte sich langsam in den Niederlanden bemerkbar: 1941 kommt es zur ersten Deportation jüdischer Niederländer. Die Situation für Familie Frank wird immer gefährlicher. Otto Frank, Annes Vater, ermöglicht der Familie das Untertauchen ins Hinterhaus, welches sich hinter seinem Geschäft befand. Er vertraut sich Mitarbeiter*innen an, die im Laufe der Jahre zu wichtigen Helfer*innen werden. Die Untergetauchten waren nun stark von den Beziehungen zu den Helfer*innen abhängig, die sie mit dem Nötigsten versorgten. Gleichzeitig stand aber auch immer die Frage im Raum: „Werden sie was sagen? Wem können wir vertrauen?“ In der Datenanalyse lässt sich erkennen, dass das Verstecken für Anne alleine nahezu unmöglich geworden wäre. Im Netzwerk wird deutlich, dass sie von den Kontakten ihres Vaters abhängig war. Durch ihn wurde Anne mit den Helfer*innen verbunden. Damit hatte Otto Frank eine Broker-Funktion. Ohne das Netzwerk ihres Vaters wäre Anne und ihre restliche Familie vermutlich schon früher den Nazi-Verbrechen zum Opfer gefallen. Von heute auf morgen musste sich Anne von ihren Freund*innen trennen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Auch das Netzwerk „Hinterhaus Teil 1“ zeigt deutlich: Das soziale Netzwerk hat sich schlagartig verkleinert.
Kitty wird zur besten Freundin
Die Bindung zu ihrer Familie wird stark beeinflusst. Das Verhältnis zur Mutter wird zunehmend schlechter. Sie fühlt sich alleine und unverstanden. In dieser Zeit gewinnt ihr Tagebuch immer mehr an Bedeutung. Ihrer „Kitty“, wie sie ihr Tagebuch nennt, vertraut sie all das an, was andere Teenager*innen mit ihren besten Freud*innen besprechen würde. Frust, Träumereien, Gedanken zur ersten großen Liebe – all das weiß nur Kitty. Denn in ihrer Mutter sah sie keine Vertrauensperson. Im Dezember 1943 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ein Mensch kann einsam sein, obwohl er von vielen geliebt wird, wenn er nicht für einen Menschen ‚der Liebste‘ ist.“ Was Anne zu Papier brachte, zeigt die Datenanalyse mehr als deutlich: Eine wirklich starke Beziehung hat sie nur zu ihrem Tagebuch. Die Zeit im Hinterhaus vergeht und Anne fühlt sich immer mehr von Peter, dem Sohn der Van Pels, angezogen. Die Beziehung zwischen den beiden wird intimer, wie der Datensatz zeigt. Daraus lässt sich ablesen, dass den beiden die höchste Relation zugewiesen wurde. Zu erkennen ist, dass die Beziehung zwischen Anne und Peter die größte Wandlung durchlebt hat.
Deportation
Auf den ersten Blick, lässt sich Annes Leben beinahe mit dem eines Teenagers vergleichen, der unter normalen Umständen heranwächst: Streit mit der Mutter, Gefühlschaos gemischt mit Zweifeln, die ersten Schmetterlinge im Bauch. Doch beim genauen Betrachten der Netzwerke wird deutlich, wie stark ihr soziales Leben eingeschränkt wurde. Ihre Jugend und schließlich auch ihr Leben wurde ihr von den Nazis genommen. Am 10. August 1944 werden die Versteckten entdeckt und in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Noch heute ist unklar, ob die Untergetauchten verraten wurden. Auch die Daten lassen potenzielle Verräter nur erahnen. Derzeit arbeitet ein Team aus Fachexpert*innen an der Aufklärung dieser Frage und können vielleicht in Zukunft eine Antwort liefern. An diesem Tag im August wurde das ohnehin schon sehr kleine Netzwerk von Anne Frank von den SS-Leuten beinahe vollständig aufgelöst. Familie Frank wird mit dem Zug nach Auschwitz deportiert. Wenig später kommt Anne und ihre Schwester nach Bergen-Belsen ins KZ. Anne stirbt dort im Frühjahr 1944 an Typhus.
Dokument für die Ewigkeit
Es ist erst wenige Wochen her, dass sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal jährte. Anne Frank wäre heute 91 Jahre alt und könnte, als eine der letzten Zeugen dieser Zeit, von den Geschehnissen erzählen. Aus erster Hand könnte sie über den Judenhass berichten und wie sich das Leben als Untergetauchte anfühlte. All das übernimmt nun ihre engste Vertraute für sie. Durch Kitty werden die Erinnerungen nie verblassen und noch bei vielen Generationen offene Fragen hinterlassen. Insbesondere die Frage, nach dem Verrat. Bis heute konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob ihre Beziehungen der Familie zum Verhängnis wurden. Fest steht aber: Durch die Geschichte von Anne Frank wird deutlich, wie stark das Leben von Beziehungen abhängig ist. Außerdem wird deutlich, welch entscheidende Rolle, auf den ersten Blick, schwache Beziehungen spielen können. An dieser Stelle darf man nicht vergessen, dass das Leben von Anne Frank kein Einzelschicksal war. Mittlerweile sind über 75 Tagebücher junger Menschen aus den Trümmerhaufen des Holocaust aufgetaucht. All das sind Dokumente der Zeit, durch die der Welt deutlich gemacht werde, wie stark Beziehungen durch die Nazis auseinandergerissen wurde. Familien wurden getrennt, Freundschaften zerstört und das soziale Miteinander massiv eingeschränkt. Somit ist Annes Wunsch, wenn auch unter tragischen Umständen, in Erfüllung gegangen: „Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. (…) Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“
Kernbegriffe:
Netzwerkanalyse: In der Netzwerkanalyse werden bestimmte Größen in ihrer Beziehung zueinander als Netzwerk aus Knoten (engl. node) und Kanten (engl. edges) untersucht.
Knoten: Knoten können Personen, Unternehmen usw. sein.
Kanten: Eine Kante verbindet einen Knoten mit einem anderen. Sie kann gerichtet und ungerichtet sein.
Soziales Netzwerk: Ein soziales Netzwerk steht für das Muster an Sozialbeziehungen zwischen einer Menge an Akteuren (=Personen, Unternehmen, etc.).
Akteur: Ein Akteur markiert für die Netzwerkforschung eine soziale Einheit, die als Knoten in einem sozialen Netzwerk fungiert. Dazu gehören Individuen, Organisationen, Verwaltungseinheiten, etc.
Broker: Ein Broker verbindet mit einer Art „Brücken-Funktion“ zwei Netzwerke miteinander.
Schwache Beziehungen: Diese Beziehungen sind eher oberflächliche Verbindungen etwa zu Bekannten, Arbeits- und Studienkollegen. Über diese können wir z.B. Tipps zu freien Arbeitsstellen bekommen.
Vorgehen:
- (Literatur-)Recherche
- Datenerhebung (Excel, Google Docs)
- Datenbereinigung
- Visualisierung (R-Studio)
- Forschungsbericht
Hier kommt ihr zu unseren Datensätzen:
Anne_Frank_Netzwerk/Abgabe at master · AnneFrank2020/Anne_Frank_Netzwerk · GitHub