„Hierzulande bedeutet Urbanisierung vor allem mehr Anonymität und Vereinzelung.”
Teelichter, Räucherstäbchen und Perserteppiche – die Atmosphäre im Dachgeschoss des Tübinger Sudhauses wirkt gemütlich. Menschen liegen auf weichen Matratzen, berühren einander und tauschen Zärtlichkeiten aus. Im Raum herrscht ein entspanntes Durcheinander an Wolldecken, Füßen in bunt gestrickten Socken, roten Wangen und lächelnden Gesichtern. Doch für viele Teilnehmer der Kuschelparty sind diese Abende ein Ausnahmezustand. Denn Berührungen spielen in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Berührungsarmut ist ein Problem, das oft zu Einsamkeit führt.
Kuschelpartys sind Veranstaltungen, bei denen fremde Menschen auf ausgelegten Matratzen stundenlang miteinander kuscheln, ohne dabei sexuelle Absichten zu verfolgen. Die erste „Cuddle Party” fand 2004 in New York statt. Inzwischen werden Kuschelpartys in mehr als 40 deutschen Städten angeboten.
In einer Langzeitstudie untersuchte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wie einsam sich die Bevölkerung Deutschlands fühlt. Das Ergebnis: Vor allem junge Menschen zwischen 20 und 29 sind vom Gefühl der Einsamkeit betroffen. Eine Altersgruppe, die auf den ersten Blick nicht gefährdet wirkt. Zwar fühlen sie sich nicht einsamer als über 60-Jährige, aber eine Entwicklung seit 2014 zeigt, dass die Generationen Y und Z Jahr für Jahr einsamer werden. Wie kann eine so vernetzte Altersgruppe sich immer einsamer fühlen?
Der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer veröffentlichte in den letzten Jahren einige Werke zu den Ursachen von Einsamkeit. In seinem Buch „Einsamkeit - die unerkannte Krankheit” versucht er das Phänomen zu erklären. Er ist sich sicher: Die Nutzung von Unterhaltungsmedien bringe die Menschen nicht näher zueinander, sondern führe zur Individualisierung und somit dazu, dass sich junge Menschen abschotten. Anstatt abends um die Häuser zu ziehen und realen, menschlichen Kontakt zu haben, isoliere man sich mit dem Smartphone. Auch ist nicht zu unterschätzen, dass immer mehr Menschen in die Städte ziehen und dadurch ein immer anonymeres Leben führen.
„Hierzulande bedeutet Urbanisierung vor allem mehr Anonymität und Vereinzelung.”
Für Spitzer hat Einsamkeit drastische Folgen, die zu Krankheit und bis zum Tod führen können. Die Ansichten des Professors könnten die Ergebnisse der Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erklären. Sind die Zahlen der einsamen Mittzwanziger seit 2014 immer mehr angestiegen, weil diese Generation mit dem Smartphone als ständiger Begleiter aufgewachsen ist?
Der Trend zu einem zunehmend anonymen Leben mit ständig neuen Bekanntschaften bringt einen entscheidenden Nachteil mit sich: Die Menschen werden in ihrem Alltag kaum noch berührt. Doch wer gibt schon gerne zu, dass er schon seit Wochen nicht mehr richtig umarmt, gestreichelt oder liebkost wurde? Obwohl so viele Menschen davon betroffen sind, ist Berührungsarmut und die damit einhergehende Einsamkeit nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft.
„Das, was wir Babys selbstverständlich zugestehen, ist bei Erwachsenen noch genauso da. Das wird in unserer Gesellschaft stark vernachlässigt.”
Kuscheln ist gut für Körper, Seele und Geist. Das weiß auch Hildegunde Schaub, Ergotherapeutin und Kuscheltrainerin. Sie lädt schon seit Jahren zu Wohlfühl-Kuschelabenden zum Berühren und Berührt-Werden ein. Erotische Absichten haben auf diesen Veranstaltungen keinen Platz und werden von Hildegunde nicht geduldet. Damit das funktionieren kann, gibt es auf Kuschelpartys klare Regeln: Die Hände bleiben stets auf der Kleidung, die erogenen Zonen sind tabu und die Kuschelnden dürfen sich nicht küssen.
„Es ist normal, dass bei so viel intensiver Nähe erotische Gefühle aufkommen können und das ist auch in Ordnung.”
Diese Gefühle dürften im Rahmen der Kuschelparty nur nicht ausgelebt werden. Darauf achtet die Kuscheltrainerin gründlich, indem sie die Kuschelnden beobachtet und ermahnt, wenn die Regeln nicht eingehalten werden.
Die Generation Z wird immer einsamer. Auf Kuschelpartys ist sie bisher allerdings kaum vertreten. Die Teilnahme daran setzt voraus, dass sich die Menschen ihre Bedürftigkeit erst einmal selbst eingestehen, meint Hildegunde Schaub. In einer Gesellschaft, die auf Erfolg und Optimierung getrimmt ist und in der viele vor allem auf sich selbst fokussiert sind, stellt das eine große Herausforderung dar. Sie beobachtet aber auch, dass sich Kuschelpartys im Allgemeinen einer immer größeren Beliebtheit erfreuen. Fakt ist, Berührungen machen glücklicher, gesünder und stressfreier. Also vielleicht sind Kuschelpartys bald das neue Yoga? Die Teilnehmer von Hildegundes Kuschelparty sind sich jedenfalls einig: Der Kuschelabend ist eine Initiative, die ihnen unglaublich gut tut und die sie nicht mehr missen wollen.