Kulturschock 3 Minuten

Ick bin'n Berliner, holt mir hier raus!

Eine Collage von Stuttgarter und Berliner Sehenswürdigkeiten mit dem schockierten Autor in der Mitte
In Berlin leben nach Schätzungen rund 300.000 Schwaben. Aber dafür jetzt auch ein Berliner mehr in Schwaben. | Quelle: Jannes Rickerts
21. Mai 2025

Zwei Städte, zwei Fernsehtürme, zwei Parallelwelten. Ein Umzug ist nie einfach, aber als Berliner nach Stuttgart??? Von Stuttgart 21 über schwäbische Klischees bis zur Kehrwoche: Wie soll man das überleben?!

Döner und Beton wurden Spätzle und Wein: Ich schaue in verwirrte Gesichter, wenn ich erzähle, ich sei von Berlin nach Stuttgart gezogen. Traditionell geht die Völkerwanderung ja in die andere Richtung. Es war an der Zeit, den Dönerspieß mal umzudrehen. Wie es in den Spreewald hereinruft, so berlinerschauzt es wieder raus… Also, ab in den Zug Richtung Epizentrum der Stuttgartifizierung.

Schwaben sind ja als passionierte Häuslebauer*innen bekannt. Umso größer mein Schock, als ich in dem Wrack, das man Stuttgart Hauptbahnhof nennt, ankam. Ich dachte, ich bin im falschen Film, denn das unterirdische Gigaprojekt wirkt wie eine missglückte Fortsetzung von Dune. Aber etwas Heimisches hat es für mich doch: unerreichbare Infrastruktur, umständliche Bauprojekte, öffentliche Desorientierung. Eine Nase vorn haben wir aber trotzdem, denn sogar der Berliner Flughafen ist mittlerweile fertig – und das 4 Milliarden Euro günstiger als Stuttgart 21. Was ich alles mit 4 Milliarden Euro anstellen könnte… Wahrscheinlich würde ich erst mal Putzkräfte für alle Stuttgarter Treppenhäuser einstellen.

Die Gastro-Beschäftigten haben finanzielle Unterstützung aber noch nötiger – oder zumindest trinkgeldgebende Gäste. In Schwaben wird bei der „10-Prozent-Regel“ gerne mal das „Pro“ gestrichen. Richtige Pros im Sparen, die Schwaben. Laut einer Studie ist Stuttgart die zweitknauserigste Stadt beim Trinkgeldgeben. Das war auch meine erste Lektion Schwäbisch. Beim Pizzabestellen rufen meine Mitbewohnis entsetzt: „Was? Fünf Euro?!“, als ich Trinkgeld aus meinem Portemonnaie hole. Als hätte ich gerade meine Niere verschenken wollen. „Wir sind hier nicht in Berlin. Hier gibt’s Regeln.“ Sogar für den eigenen Geldbeutel. In Berlin gibt’s weniger Regeln – und weniger Geld. Ganz nach dem Berliner Motto: Arm, aber sexy. Also gut, mit drei Euro Trinkgeld verabschiede ich den Lieferanten. Integration hat ihren Preis. 

Man möchte meinen, das ganze Geld, das die Schwaben sparen, ließe sich in die Instandhaltung ihrer Häusle stecken, aber dafür wird lieber Lebenszeit als Kapital herangezogen. Nur ist es MEINE Lebenszeit. Das Putzen muss nämlich ICH übernehmen. Zuerst wollte ich rebellieren, aber ein dezenter Zettel an meiner Wohnungstür, auf dem in roten Großbuchstaben „KEHRWOCHE“ prangt, wirkte wie eine Mahnung vom Finanzamt – und war mindestens genauso bindend. Den Schwaben ist Ordnung wichtig, ich ordne mich unter. Man drückte mir einen Besen in die Hand und fegte mir das Lächeln vom Gesicht. Dabei habe ich nicht die geringste Ahnung wie man „Kehrwoche“ überhaupt auf Berlinerisch sagt. Wahrscheinlich gar nicht. Wenigstens kann man in Stuttgarter Treppenhäusern mit Putzen noch etwas bewirken, in Berlin wäre eine Grundsanierung nötig.

„Das ist alles ein bisschen zu viel Klischee: Die sparsamen Schwaben, der bratzige Berliner. Das ist doch viel zu platt!“, denken jetzt vermutlich viele. Man hält Klischees ja oft für bloße Übertreibung. Aber manchmal ist das Überraschende, wie viel Wahrheit darin steckt. Und noch überraschender: wie schnell man selbst reinrutscht. Ich habe mich gewehrt, ehrlich. Gegen Spätzle, gegen Sparsamkeit, gegen Schrubber. Aber das Tückische an Gewohnheiten ist: Sie schleichen sich ein. Und so fängt man an. Erst kehrt man, nur wenn’s an der Tür klebt, dann plötzlich auch unter der Woche. Erst drei Euro Trinkgeld, dann einer. Und irgendwann kreist man sich die Spätzletage in der Mensa rot ein. Man könnte sagen, ich integriere mich, wa? … äh ich meine natürlich: gell.

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