"Ob dort die Firma Herrenknecht mit ihren Maschinen schnell durchkommt […] weiß man nicht."
~ Regierungserklärung vom 25.07.2007
Die verdeckten Verbindungen hinter Stuttgart 21
Stuttgart 21, auch S21 genannt, ist eines der größten Infrastrukturvorhaben Baden-Württembergs, das nicht nur Schlagzeilen macht, sondern auch die Gemüter der Gesellschaft spaltet. Befürworter*innen des Projekts sehen darin eine Optimierung der Verkehrsinfrastruktur sowie eine unverzichtbare Schaltstelle für den internationalen Bahnverkehr. Auf der anderen Seite stehen jedoch die Gegner*innen von S21, die eine Liste von Bedenken und Gegenargumenten vorbringen. Eine Verschwendung von Geldern, Ressourcen und potenziell negative Auswirkungen auf die Umwelt, wie beispielsweise die erhöhte Feinstaubbelastung oder die Fällung alter Bäume, sind nur der Anfang dieser langen Liste. Inmitten der Vielzahl von Meinungen und Interessen wird dieses kontrovers diskutierte Großbauprojekt vorangetrieben.
Was ist Stuttgart 21 überhaupt?
Stuttgart 21 ist viel mehr als nur ein einfaches Großbauprojekt. Das Projekt ist eine Vermischung von Interessen aller beteiligten Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft und der Deutschen Bahn.
Im Sommer 2023 haben wir eine Untersuchung an über 100 Personen durchgeführt, die in Verbindung mit dem Projekt Stuttgart 21 stehen. Unter diesen Personen konnten wir mehr als 170 Verbindungen untereinander feststellen und in Tabellenform festhalten – unser Datensatz „s21“ war fertig. Im Herbst 2023 haben wir diesen Datensatz mithilfe der Statistik-Programmiersprache R analysiert, um herauszufinden, wie stark diese Personen miteinander vernetzt sind.
Im hier visualisierten Netzwerk werden solche Verbindungen zwischen Akteur*innen und Organisationen aufgeführt, die aus öffentlich zugänglichen Quellen stammen. Bei der Recherche haben wir mit dem Zwei-Quellen-Prinzip gearbeitet und jede Verbindung mithilfe unabhängiger Quellen überprüft. Es ist wichtig zu betonen, dass eine Verbindung im Netzwerk nicht zwangsläufig auf Fehlverhalten hinweist, sondern lediglich eine bestehende Beziehung zwischen den Knoten (Akteuren und Organisationen) visualisiert, die für das Projekt Stuttgart 21 von Relevanz ist.
Stuttgart 21 ist das Ergebnis der jahrelangen Verflechtungen zwischen der Bahn, der beteiligten Unternehmen und der Politik. Dass Politiker*innen im Kontext von S21 auch im engen Austausch mit beteiligten Unternehmen stehen, ist klar.
Jedoch gibt es auch Akteur*innen, die aus der Politik in die Wirtschaft gewechselt sind und sich seitdem in hohen Positionen befinden. Diese sind darüber hinaus oft gut bezahlt, darunter etwa Aufsichtsratsposten oder Beiratsposten. Politiker*innen, die in die Wirtschaft wechseln, nehmen ihre Kontakte bei diesem Seitenwechsel oft mit. Wird aus der wirtschaftlichen Position heraus eine Entscheidung der Politik versucht zu beeinflussen, nennt man das Lobbyismus. Unter den erhobenen Akteur*innen finden sich einige dieser Seitenwechsler*innen wieder. Diese beiden Fälle der Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft müssen dementsprechend voneinander abgegrenzt werden.
Ego-Netzwerke ersten und zweiten Grades
Ego-Netzwerke zeigen ein Teilnetzwerk, in dem ein bestimmter Knoten (wie die Herrenknecht AG) in der Mitte steht und alle Verbindungen dieses Knotens zu anderen im Netzwerk dargestellt werden. Diese Darstellung kann entweder im ersten Grad erfolgen, was bedeutet, dass nur die Knoten gezeigt werden, die direkt mit dem zentralen Knoten verbunden sind, oder im zweiten Grad, was bedeutet, dass alle Verbindungen des zentralen Knotens angezeigt werden, die über einen Zwischenschritt mit ihm verbunden sind.
Die Herrenknecht AG ist einer der größten Hersteller im Bereich der Tunnelbaumaschinen. Sie hat ihren Stammsitz in der Nähe von Lahr und ist demnach nur etwa zwei Stunden Autofahrt von Stuttgart entfernt. Die Tiefbau-Firma aus Südbaden bohrt seit 2014 drei verschiedene Tunnelabschnitte bei S21 für die Deutsche Bahn AG.
Der Knoten der Herrenknecht AG ist im Netzwerk bereits hinsichtlich seiner direkten Verbindungen gut vernetzt. Unter anderem weist die Herrenknecht AG direkte Verbindungen zum damaligen Bahnchef Rüdiger Grube auf. Dieser war nach seiner Zeit bei der Deutschen Bahn AG bis 2020 Teil des Aufsichtsrats der Herrenknecht AG und wurde für diese Verbindung auch stark kritisiert. Der ehemalige Vizechef von Transparency International Deutschland, Hartmut Bäumer, kommentierte dazu gegenüber der Wirtschaftswoche: "Das hat ein Geschmäckle." Rüdiger Grube sei noch gut mit den Plänen der Deutschen Bahn AG vertraut gewesen.
Doch blickt man auf all die Akteur*innen, mit denen die Herrenknecht AG über nur einen Umweg, etwa einen gemeinsamen Kontakt, Verbindungen hat, so erkennt man schnell, dass die Südbadische Baufirma im Netzwerk eine zentrale Position einnimmt. Die zusätzlichen Verbindungen in Visualisierung 3 im Vergleich zu Visualisierung 2 könnten darauf hindeuten, dass die Herrenknecht AG direkte Verbindungen zu wichtigen Akteuren hat. Diese Akteure verfügen wiederum über wertvolle Kontakte im Bauprojekt S21.
Dass die Herrenknecht AG bei Stuttgart 21 eine Hauptauftragnehmerin sein wird, stand für den ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Günther Oettinger bereits im Juli 2007 fest, weit vor den ersten Ausschreibungen. Er sagte in einer Regierungserklärung zu dem S21-Teilabschnitt “Albaufstieg”: “Ob dort die Firma Herrenknecht mit ihren Maschinen schnell durchkommt oder ob sich das Gestein als hart erweisen wird, ob da etwas bröckelt oder nicht, weiß man nicht.” Ein Satz, dem man das Selbstverständnis entnehmen kann, dass die Herrenknecht AG in den Augen der Planenden auf jeden Fall den Abschnitt des Albaufstiegs bohren sollte. Zumindest in denen von Günther Oettinger. Dass ein solches Lippenbekenntnis auf öffentlicher Bühne weit vor den gesetzlich vorgegebenen Ausschreibungen erfolgt, rechtfertigt eine genauere Betrachtung der Beziehung Günther Oettingers zur Herrenknecht AG.
Günther Oettinger, der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs (2005 bis 2010), gilt seit Jahren als Befürworter des Bauprojekts Stuttgart 21. Im Netzwerk s21 ist er sehr stark mit anderen beteiligten Akteur*innen vernetzt. Sowohl mit dem ehemaligen Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (2005 bis 2009), als auch dem früheren Oberbürgermeister von Stuttgart Wolfgang Schuster ist er im Netzwerk direkt verbunden.
Während seiner Zeit als Ministerpräsident war er im Jahr 2008 zu 25 Prozent an der Oettinger-Gruppe beteiligt. Diese wiederum hatte den Baden-Württembergischen Sparkassenverband als Gesellschafterin. Als Ministerpräsident von Baden-Württemberg stand er dem Sparkassenverband BW vor. Oettinger hatte also großen politischen Einfluss auf die Gesellschafterin eines Unternehmens, bei der er als Privatperson Anteile hatte.
In einem Bericht des Spiegels im Jahr 2011 wurde zudem anhand veröffentlichter Dokumente bekannt, dass die Landesregierung um Ex-Ministerpräsident Oettinger bereits im Jahr 2009 von einer Kostensteigerung des Bauprojekts gewusst habe. Er habe bewusst Papiere und Dokumente sowohl vor dem Landtag als auch der Öffentlichkeit zurückgehalten, um ein noch schlechteres Image des Bauprojekts S21 zu verhindern. Der Spiegel zitiert zudem einen Vermerk auf einer Kostenrechnung, welche von Oettinger stammen sollte, mit den Worten: “Auf Wunsch des Herrn MP” solle von “neuen Kostenberechnungen abgesehen werden”. Mit “MP” ist hier wohl der Ministerpräsident gemeint, also Günther Oettinger. Er ist so einer der Verantwortlichen für das bewusste Zurückhalten der Kostenentwicklung.
Diese Dokumente sind noch heute die Argumentationsgrundlage für Kritiker*innen und Gegner*innen, vor allem auf politischer Ebene, das Projekt auf den Prüfstand zu stellen. Zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2010 übergibt Oettinger das Amt an seinen CDU-Parteikollegen Stefan Mappus. Seine Nähe zu dem Bauprojekt und der Wirtschaft behält Oettinger sich dennoch bei: Im Jahr 2020 übernimmt der CDU-Politiker einen Aufsichtsratsposten bei der Herrenknecht AG. Dabei ist Oettinger nicht der erste Politiker der einen Posten bei der Herrenknecht AG annimmt. Zuvor war es CDU-Mitglied Lothar Späth, der bis 2012 ebenfalls im Aufsichtsrat Herrenknechts beschäftigt war. Mit diesem Beispiel wird deutlich, dass es durchaus Verstrickungen auf politischer und wirtschaftlicher Ebene gibt, an denen auch die Herrenknecht AG beteiligt ist.
Das Ganze ist nur ein kleiner Einblick hinter die Kulissen des Bauprojekts Stuttgart 21. Der Datensatz s21 zeigt noch lange nicht alle Verbindungen im verworrenen Konstrukt S21 auf. Aber die wichtigsten Verbindungen fanden darin ihren Platz. In einem weiteren Artikel widmen wir uns der aktivistischen Geschichte hinter S21. Du findest den Artikel "Die Macht des Aktivismus" direkt hier verlinkt: