Ausgangssperre: Lauert die Gefahr in der Nacht?
Als Studentin sitze ich im Durchschnitt von acht bis 16 Uhr in meinem stickigen WG-Zimmer vor dem Laptop. Nach einem schnell zubereiteten Snack, meistens irgendwas mit Nudeln, mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Wenn ich um 22 Uhr Feierabend habe, darf ich höchstens noch alleine spazieren gehen, mich aber nicht mit Freund*innen treffen. Als Frau nachts alleine unterwegs zu sein, ist nicht unbedingt das, was ich mir als Feierabendaktivität vorstelle. Das macht mich mütend, müde und wütend zugleich.
Es bedarf einer sehr guten Begründung, wenn die Grundrechte der Bürger*innen eingeschränkt werden sollen. Vor allem, wenn es sich dabei um eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit handelt. Sicherlich ist eine weltweite Pandemie Grund genug für Grundrechtseingriffe, aber doch nur, wenn sie auch verhältnismäßig sind und tatsächlichen Nutzen hervorbringen.
Solange sich in Großraumbüros zu jeder Tages- und Nachtzeit Arbeitnehmer*innen, die sich zu schade für die Home-Office-Empfehlung sind, tummeln dürfen, ist eine Ausgangsbeschränkung nicht verhältnismäßig. Ebenso kann nicht ernsthaft davon geredet werden, dass die Ausgangssperre großartig bei der Pandemiebekämpfung helfen würde.
Lauert das Aerosol-Monster wirklich in der Nacht?
Nein. Und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die von Spitzen-Aerosol-Forscher*innen. Genauer gesagt, handelt es sich bei ihnen um Mitglieder der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) aus aller Welt. Ja richtig gehört, der ganzen Welt.
„Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist“ – das schrieben die Forscher*innen am 11. April diesen Jahres in einem offenen Brief an die Bundesregierung. Sie plädierten dafür, endlich auf die Wissenschaft zu hören, dass „DRINNEN die Gefahr lauert“. Ja, in diesem förmlichen Brief wurde tatsächlich mit „Capslock“ gearbeitet, um die Dringlichkeit noch deutlicher zu machen. Und trotzdem hat Baden-Württemberg zwei Tage später die Ausgangssperre in Kraft gesetzt und die Großraumbüros offengelassen. Knapp zwei Wochen später folgte die Bundesnotbremse mit demselben Prinzip.
Was weiß schon die Wissenschaft.
Über die Unverhältnismäßigkeit
Es gibt wohl kaum etwas, das die Bevölkerung mehr abstumpft und zu Wut und Pandemiemüdigkeit führt, als ein dauerhafter Alarmzustand und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.
Seit Anfang der Pandemie gab es keinen einzigen Tag, an dem meine Arbeitsstelle geschlossen hatte. Jedes Mal treffe ich auf engem Raum bis zu zehn Kolleg*innen und komme mit dutzenden Kund*innen in Kontakt, die zu 90% keine Maske tragen. Auf der anderen Seite darf ich im Park nur mit einer weiteren Person picknicken gehen. Das macht mich ganz schön mütend.
Auch die GAeF wirbt in ihrem Brief dafür, dass Zusammenkünfte in Innenräumen so kurz wie möglich gestaltet werden sollten. Die Ausgangssperre hilft da nicht sonderlich. Anstatt sich mit Freund*innen am Marienplatz auf ein Feierabendbier zu treffen, werden solche Treffen jetzt in die eigenen vier Wände verlegt. Und da man nach 22 Uhr das Haus ohne triftigen Grund nicht mehr verlassen darf, wird eben bei den Freund*innen übernachtet. Da fühlt sich das Aerosol-Monster natürlich richtig wohl. Auch weil in den WGs der Stadt dann doch schnell mal fünf Haushalte aufeinandertreffen. Ohne Angst, kontrolliert zu werden.
Dass die Politik das trotzdem durchzieht, liegt wohl daran, dass im Grundgesetz nicht geregelt ist, wann der Staat eine Ausgangssperre verhängen darf. In Kombination mit dem novellierten Infektionsschutzgesetz entsteht ein weiter Spielraum, den Wirtschafts-liebende-Politiker*innen gerne ausnutzen.
Macht endlich alles dicht!
Aber jetzt mal im Ernst: Wäre es nicht auch für die Wirtschaft besser, zwei Wochen, von mir aus auch einen ganzen Monat, alles dicht zu machen und auf Pause zu drücken, als monatelang nur eingeschränkt funktionieren zu können?
Mit der Initiative Zero Covid plädieren internationale Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Pflegepersonal und Persönlichkeiten der Öffentlichkeit für einen solidarisch europäischen Lockdown. Das Ziel dabei sei nicht die Kontrolle der Pandemie, sondern die Beendung. Hauptpunkte sind, direkte Kontakte im Inneren zu vermeiden. Also Schulen, Büros und Betriebe schließen, bis wir auf null sind. Gleichzeitig könnte man dafür Zusammenkünfte an der Luft mit Hygienekonzepten weiter lockern.
Das klingt vernünftig, doch was weiß schon die Wissenschaft.