In der Stadt wird geackert
Stuttgart Nord – Äste mit grünen Blättern bilden das Tor zu einem Trampelpfad. Der heruntergetretene Boden gibt unter den Schuhen nach und die Luft scheint frischer und sauberer als noch einige Meter zuvor an der Bahnhaltestelle. Bald endet der kleine Weg vor einem bunt bemalten Traktorreifen. „Stadtacker” wurde mit großen Buchstaben darauf gepinselt. Der Reifen ist eingebettet in Sträucher und schon fast eingewachsen in die langen Gräser darum herum. Es scheint, als würde er dort schon einige Zeit stehen. Seit mehr als zwölf Jahren gibt es den Stadtacker e.V. neben den Wagenhallen in Stuttgart nämlich. Hier kommen junge und alte Menschen, Familien und Singles zusammen und bauen ihre eigenen Lebensmittel an. Ganz ohne Chemie und mit viel Engagement.
Urban wie bitte?
Beim Stadtacker wird „Urban Gardening”, also „Urbaner Gartenbau”, betrieben. Das ist so ziemlich das, was der Name verspricht. In städtischen Gebieten werden Gemüse, Obst, Nüsse oder Kräuter angebaut. Das geschieht meist auf kleineren freien Flächen inmitten des Großstadtjungles. Auch in privaten Räumlichkeiten, auf Hausdächern, in Schulen oder Universitäten werden urbane Gärten gehegt und gepflegt. Freiwillige, Mitglieder der Vereine und Angestellte arbeiten zusammen und kümmern sich um die Bepflanzung, Verpflegung und Ernte der Beete.
Einer der Mitarbeitenden des Stadtackers ist Valentin Claus. Er ist Projektkoordinator des urbanen Gartens und seit Februar 2024 dabei. Neben seinen Haupttätigkeiten hilft er auch bei anderen Aktionen des Vereins mit. Darunter befinden sich zum Beispiel kulturelle oder pädagogische Veranstaltungen. Beispielsweise besuchen wöchentlich drei bis vier Schulklassen oder Kindergärten den Stadtacker, um über die Natur und den Anbau von Lebensmitteln zu lernen. Die Kinder stellen Farben aus Pflanzen her und malen damit kleine Kunstewerke oder sammeln unterschiedliche Stoffe und Pflanzen auf dem Gelände, um eine kleine Ausstellung anzufertigen. „Gartenbauunterricht in den Schulen, das wäre was Schönes“, schwärmt Valentin.
„Die Blume hier kann man essen. Die schmeckt ein bisschen wie Gurke!“ Wenn Valentin über das 2.000 Quadratmeter große Gelände spaziert, zwischen den Beeten umher streift und nach der ein oder anderen Brombeere greift, ist es kaum vorstellbar, dass hier mal das ehemalige Ausbesserungswerk der Bahn am Nordbahnhof stand. Die Basis für den heutigen Stadtacker wurde 2012 auf einer Brachfläche errichtet. Im Sommer des Jahres sollte bei den Wagenhallen ein Architekturfestival mit dem Namen „72 Hours Urban Action“ stattfinden. Architektur- und Agrarwirtschaftsstudierende und Landschaftsarchitekt*innen schlossen sich zusammen, um passend zum Thema des Festivals ein gemeinschaftliches Gartenprojekt zu realisieren. Durch den eigenständigen Anbau von Lebensmitteln sollten die Teilnehmenden des Festivals versorgt werden. Damals arbeiteten sie unter dem Namen „Action Gardening“.
Ab da nahm alles seinen Lauf, und zwölf Jahre später steht der Stadtacker noch immer am gleichen Fleck und bringt durch die Zwischennutzung der Fläche grünes Leben nach Nord. Die größte Herausforderung zu Beginn sei der Bodenaufbau gewesen, erzählt Valentin. „Wenn ein Boden frisch aufgeschüttet wird und da noch nichts gewachsen ist, ist es erstmal viel Arbeit, bis man einen fruchtbaren Boden hinbekommt“, erklärt er. Sie seien selbst nach zwölf Jahren immer noch nicht ganz zufrieden an manchen Bodenstellen, gibt der Mitarbeiter zu. „Das dauert seine Zeit.“
Was ist eine Brachfläche?
Brachflächen sind untergenutzte oder ungenutzte Grundstücke. Sie werden entweder nicht gemäß ihrem städtebaulichen Potenzial oder gar nicht genutzt. Bei Brachflächen handelt es sich oft um aufgegebene Betriebsgrundstücke, die von einem Unternehmen nicht mehr benötigt werden.
Quelle: umweltbundesamt.de
Zahlen und Fakten
Auf der linken Seite des Schotterwegs, der durch die Anlage führt, steht ein kleines hölzernes Häuschen. Daran befestigt ist ein selbstgemaltes Schild. Darauf steht: „Im Boden leben und zerlegen in einem Quadratmeter: 80 Regenwürmer, 50 Asseln, 50 Spinnen, 100 Käfer, 100 Larven, 10 Borstenwürmer, 1 Millionen Fadenwürmer, Milliarden von Algen, Pilzen und Bakterien. Vielfalt ist gut.“ Neben den Worten sind Regenwürmer und Insekten gemalt, die sich kringeln und winden. Urbane Gärten bieten inmitten von Beton und Wohnanlagen ein Zuhause für wichtige Insekten. Die Artenvielfalt kann so in städtischen Gebieten erhöht und erhalten werden. Der Stadtacker beherbergt zusätzlich auch Bienen. Alle zwei Wochen käme jemand vom Verein ProBiene und kümmere sich um die Bestäuber, erzählt Valentin.
Urbaner Gartenbau zeichnet sich durch seine Nachhaltigkeit aus. Schon vorhandene Materialien werden wiederverwendet und zweckentfremdet, und von Pestiziden ist hier nicht zu reden. Die Mitglieder des Vereins sind eingeladen, ihrer Kreativität im Gartenbau freien Lauf zu lassen. „Solange sie kein Gift einsetzen, dürfen sie fast alles“, erklärt Valentin.
Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) hat sich mit den Leistungen von Gemeinschaftsgärten in Berlin und Stuttgart befasst. Das Institut kam zum Schluss, dass in Stuttgart durch die 17 Gemeinschaftsgärten jährlich etwa 40 Tonnen an Gemüse, Kartoffeln und Kräutern geerntet werden können. Der Stadtacker macht davon 7,6 Tonnen an Nahrungsmitteln aus. Valentin erzählt, dass viele der angepflanzten Lebensmittel direkt in der Gemeinschaftsküche auf dem Stadtacker weiterverwendet werden. Außerdem nimmt der Stadtacker jährlich 20.000 Liter Starkregen auf. Das trägt zur Entlastung der Kanalisation bei und schützt vor Hochwasser. Der Gemeinschaftsgarten reduziert etwa 800 Kilogramm Treibhausgase im Jahr und filtert acht Kilogramm Schadstoffe aus der Luft. Generell kann der Anbau von Lebensmitteln in städtischen Gebieten durch verkürzte Transportwege CO2-Emissionen zusätzlich reduzieren. Im Vergleich dazu beträgt der durchschnittliche Treibhausgasausstoß pro Person in Deutschland aktuell 10,8 Tonnen CO2-Äquivalente. Außerdem dienen urbane Gartenprojekte als Quelle in sogenannten „Nahrungsmittel-Wüsten“.
Was sind Nahrungsmittel-Wüsten?
Nahrungsmittel-Wüsten sind einkommensschwache Gebiete. Die Einwohner*innen haben entweder keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu gesunden Lebensmitteln wie Gemüse und Früchten. Zu finden sind solche Wüsten in ärmeren Ländern, aber auch in sozialen Brennpunkten von Großstädten und Dörfern ohne gute Anbindung zu Supermärkten.
Quelle: students4kids.org
Mehr als nur Gärtnern
Heute ist Mitmachtag. Das heißt, dass alle Mitglieder des Vereins, aber auch Außenstehende, dazu eingeladen sind, gemeinsam am Stadtacker zu arbeiten. Auf der Todo-Liste steht die Beseitigung von Sperrmüll. Es stapeln sich in der dafür vorgesehenen Ecke einige alte Stühle, Holz mit Kleberesten und diverse andere Kleinigkeiten. Momentan wird im Stadtacker viel aussortiert und neu bewertet. Valentin muss nämlich auch den Umzug des Gartens koordinieren. Von Anfang an war klar, dass der urbane Garten eine Zwischennutzung der Brachfläche ist und zu einem späteren Zeitpunkt dem Bau von Wohnanlagen weichen würde. Diese Zeit ist nun gekommen. Das Positive daran: Es steht schon fest, wo es als nächstes für die Pflanzen hingeht – auf eine angrenzende Fläche entlang des Gartenvereins. Das Negative daran: Ganz viele Fragen sind noch offen. „Wann wird wo gerodet, wann werden die Eidechsen vergrämt, wann können wir auf die neue Fläche und müssen die alte räumen – da sind noch viele Fragezeichen”, erzählt der Umzugskoordinator. Auch der Bodenaufbau wird vermutlich erneut eine Herausforderung darstellen. Trotz einiger Unsicherheiten ist Valentin guter Dinge, was die Zukunft nach dem Umzug angeht: „Wir wollen weiterhin ein grünes Vorzeigeprojekt sein!“
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Die neue Fläche wurde von der Stadt Stuttgart vorgeschlagen. Zusätzlich spendiert sie auch eine Stelle für die Umzugskoordination (diese teilt Valentin sich mit einer Kollegin) und eine halbe Stelle für die am Stadtacker betriebene Bildungsarbeit. Laut dem „Förderprogramm für urbanes Grün“ der Stadt, sollen die urbanen Gärten Stuttgart die Naturerfahrung und Umweltbildung fördern. Sie sollen Flächen der Erholung, des Treffens und des Lernens sein. Aber wie unterstützt die Stadt die Gärten konkret? Neben Koordination, Unterstützung und Beratung lässt sie auch ein paar Groschen springen. So können urbane Gärten in ihrer Entstehung zur Erstanlage maximal dreitausend Euro und zum Erhalt und Betrieb zwischen ein- und zweitausend Euro erhalten.
Wenn der Sperrmüll auf der Straße liegt, kehrt Ruhe auf dem Acker ein. Einige vereinzelte Anwohner*innen spazieren über das Gelände, am Treffpunkt sitzen ein paar Jugendliche. Die Bienen summen und fliegen von Blüte zu Blüte, und in der Nachmittagssonne nennt Valentin den Acker „ein Stück Heimat, ein Stück Erfüllung – aber auch viel Arbeit.“