Der Startup-Sexist im Hipsterlokal

Es ist 19:52 Uhr, in irgendeinem veganen Hipster-Restaurant am Stadtrand. Vor meinen Augen steht eine riesige Bowl, dahinter türmt sich der mindestens genauso riesige Burger, den meine Freundin bestellt hat. Wir sitzen hier seit ungefähr einer Stunde in einem Dschungel aus Zimmerpflanzen und von den Wänden hängenden Rennrädern und tauschen uns über alles Mögliche aus. Doch seit wenigen Minuten hat sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit verschoben: Am Nebentisch haben sich zwei weitere Personen niedergelassen. Zwei Personen, die – und da sind wir uns nach unauffälligem Lauschen und sorgfältiger Analyse sicher – sich auf ein Tinder-Date verabredet haben.
Ein Gespräch mit der Wand
Was als ein etwas verhaltenes Ping-Pong-Gespräch mit den üblichen Smalltalk-Themen beginnt, geht langsam, aber sicher in einen einseitigen Monolog über: Tinder-Date-Partizipant Nummer 1, ein Mitte 30-jähriger Typ mit etwas zu engem Jackett, kommt langsam, aber sicher in Plauderstimmung. Nur scheint dieses Plaudern weniger ein Dialog mit Tinder-Date-Partizipantin Nummer 2 zu sein, sondern eher ein Gespräch mit sich selbst. Oder mit dem Fahrrad an der Wand. Während Tinder-Date-Partizipantin Nummer 2 höflich nickt – und ab und zu ein „Aha“, oder ein zustimmendes „Mhm“ einschiebt, labert ihr Gesprächspartner am laufenden Band. Über Aktien, seine spirituell-erleuchtende Thailand-Reise und sein dubioses Online-Business. „Man muss da mit Clickbait arbeiten: „10 Wege, wie du über Nacht dein Geld für dich arbeiten lässt“ – so läuft das in diesem Business“, präsentiert er stolz, während ich einen alarmierten Blick mit meiner Freundin austausche. In meinem Kopf brainstorme ich kurz, wie wir unserer Tischnachbarin unauffällig signalisieren könnten, dass sie dreimal blinzeln soll, wenn sie Hilfe braucht. Doch offenbar kommt alle Hilfe zu spät: Nachdem er seiner Verabredung gnädigerweise für ungefähr 10,7 Sekunden das Wort überlässt – und sie somit die Gelegenheit bekommt, von ihren Studijobs als Kellnerin zu berichten – fährt er nach einem belächelnden „Aha, eine Selfmade-Woman also“, mit seinem Redeschwall fort.
Wie prägt Volllabern unsere Beziehungen?
Was jedoch viel schmerzhafter ist, als die Konversation an sich: Der Gedanke, dass Tinder-Date-Partizipant Nummer 1 das Date vermutlich als erfolgreiches Kennenlernen abspeichern wird. Dass ihm seine Labergewohnheiten mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht bewusst sind. Und dass Tinder-Date-Partizipant Nummer 1 zwar ein Extrembeispiel, jedoch mitnichten einen Einzelfall darstellt.
Das Klischee, dass Frauen mehr reden als Männer, scheint sich hartnäckig in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein verankert zu haben. Und tatsächlich gibt es Zahlen, die diesen Glaubenssatz immerhin in Teilen stützen. Laut einer Studie der University of Arizona sprechen Frauen im Durchschnitt etwa 1.073 Wörter am Tag mehr – jedoch besteht der Trend nur in bestimmten Lebensphasen. Dazu kommt, dass Männer anderen Studien zufolge in bestimmten Kontexten, wie zum Beispiel auf wissenschaftlichen Kongressen, deutlich mehr verbalen Raum einnehmen als ihre weiblichen Kolleginnen. Und dann gibt’s eben noch die gelebte Erfahrung von tausenden hetero- oder bisexuellen Frauen, die sich auf ihren Dates weniger als aktive Gesprächspartnerin, sondern eher als Therapeutin oder Interviewerin wahrgenommen fühlen. Letztendlich ist der Akt des Volllaberns nichts anderes als eine Hürde dafür, erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, da er von Beginn an eine Asymmetrie herstellt. Eine Asymmetrie, die nur aufgelöst werden kann, wenn man folgendes beachtet: Weniger labern, mehr zuhören.