Dorfleben

Die Arschkarte

Zu sehen vor jedem Dorf: Ein Ortsschild und jede Menge Feld
02. Apr. 2022
Ich bin ein Dorfkind. Ich bin es gewohnt, dass sich Gerüchte schneller verbreiten, als es die Bild-Zeitung jemals könnte. Die Stadt ist mit Bus und Bahn eine halbe Weltreise entfernt. Manchmal hasse ich das Dorfleben, manchmal liebe ich es.

Wenn du morgens um 7 Uhr entweder von dem Hahngeschrei oder der brüllenden Kettensäge des Nachbarn geweckt wirst, dann gratuliere ich dir. Herzlich Willkommen im Club der Dorfkinder.„Ich bin ein Dorfkind und darauf bin ich stolz“, das Lied von Schlagersängerin Mia Julia ist wohl der einzige Trostpreis für dieses Schicksal. Insofern man das als Trostpreis bezeichnen kann. Denn stolz bin ich absolut nicht darauf, dass ich aus meinem Kaff ohne Auto kaum rauskommen würde. Wobei es auch mit dem Auto teilweise gefühlt Tage dauert, wenn ich hinter den 100 Dorftraktoren und Abfall-Lastern auf der Landstraße mit 20km/h hinterhertucker und dabei den Gestank der Kuhscheiße einatme, bis sie endlich Richtung Bauernhof abbiegen. Aber ohne Auto haben wir Dorfmenschen wohl noch schlechtere Karten. Die Busse, die in das nächste größere Örtchen fahren, damit du von dort in die „richtige“ Stadt fahren kannst, fahren nämlich meist nur jede Stunde. Wenn sie überhaupt fahren. 

 

Die Dorfklassiker

Busse auf dem Land sind ungefähr so verlässlich wie die Gerüchte, die im Dorf kursieren. Parkt mal ein anderes Auto vor der Garage, hat sich Frieda definitiv von Andreas scheiden lassen. Was für eine Dorfmatratze! Alles Informationen von verlässlichen Quellen natürlich. Immerhin haben die Cousins von der Tante meiner Oma, Frieda erst letztens mit einem anderen unbekannten Typ in der Apotheke gesehen. 

Wer glaubt, dass die digitale Zeit schuld am Überwachungsstaat ist, hat nie auf dem Dorf gelebt.

Kommen wir von der Dorfmatratze zur Dorftratschtante, die Karla Kolumna vom Land. Gibt es ein Gerücht, weiß es die Tratschtante, die übrigens nicht weiblich sein muss, als erstes und verbreitet es schneller, als es die Bild-Zeitung jemals könnte. Ihm oder ihr geht man lieber aus dem Weg. Das ist Gesetz. Dorfleben ist kein Zuckerschlecken. Wer glaubt, dass die digitale Zeit schuld am Überwachungsstaat ist, hat nie auf dem Dorf gelebt. Im Dorf braucht man nämlich keine Überwachungskameras, da gibt es die Dorf-Omas.

 

Die Dorf-Omas

Dorf-Omas sitzen jeden Tag bei Wind und Wetter, mit ihren Drei-Meter-Durchmesser-Brillen auf dem Balkon und warten bis sich etwas bewegt. Sie bekommen alles mit. Sie wissen, dass Hund Anton von den Nachbarn gerade an Verstopfung leidet, weil sie nur noch zweimal und nicht dreimal am Tag zum Gassi gehen raus müssen. Sie sind empört darüber, wenn man beim Vorbeilaufen nicht ein kurzes und unangenehmes „Hallo“ den Balkon hoch schreit. Sie erschrecken, wenn die Nachbarn schon montags und nicht wie normal donnerstags, die braune Tonne auf den Gehweg stellen. Auch die Parkplätze oder die Verkehrsüberwachung gehören zu ihren Spezialitäten. Sie warten eigentlich nur darauf, bis jemand von gegenüber unerlaubt parkt. Dann kommt ihr Einsatz: Schnell raus rennen und dem oder der Falschparker*in erstmal ordentlich den Marsch blasen. Und sobald in Zone 30 ansatzweise zu schnell gefahren wird, ist das Kennzeichen schon aufgeschrieben. Insofern das Kennzeichen überhaupt nötig ist, denn Dorfleben heißt: Jeder kennt jeden. Und jeder kennt Wege, die nicht mal Google kennt. Vielleicht könnte ich als Dorfkind, ja darauf stolz sein. 

Wieso das Dorfleben doch viele Vorteile haben kann, könnt ihr in einer weiteren Folge der Kolumne „Dorfleben" erfahren.