„Es ist wirklich eine Herausforderung, jeden Tag aufzustehen und von vorne anzufangen.“
"Ich fühle mich wie ein Mensch vierter Klasse"
Ira* wurde als Junge großgezogen, sah jedoch schon immer wie ein Mädchen aus. Ihren Eltern war deshalb schon früh klar, dass sie sich von anderen Kindern unterscheidet. Als mit 20 Jahren ihr Körper anfängt sich zu verändern, merkt auch Ira, dass sie anders ist: „Dann kam mehr und mehr die männliche Seite auf und ich war gefangen in diesem Körper, der extrem androgyn wirkt.“ Ira ist intergeschlechtlich.
In Deutschland leben laut dem Bundesverfassungsgericht bis zu 160.000 intergeschlechtliche Personen. Für Ira und viele andere ist das Leben in unserer Gesellschaft nicht leicht. Auf welche Weise Inter-Menschen damit umgehen, sei von Person zu Person unterschiedlich, erklärt Lucie Veith vom „Bundesverband Intersexuelle Menschen“. Wie sehr intergeschlechtlich geborene Menschen unter Diskriminierung leiden, komme immer auf das soziale Umfeld an.
Es kann laut Lucie Veith vorkommen, dass Inter-Personen in einer männlichen oder weiblichen Rolle erzogen werden und gar nichts über ihre Intergeschlechtlichkeit wissen. Sobald sie davon erfahren, werfe sie das erst einmal aus der Bahn. „Wenn ich diese Information nicht habe und mir eine Geschlechtsidentität aufgebaut habe, dann ist das erst einmal eine Katastrophe“, meint Veith, die selbst intergeschlechtlich ist. „Wohin soll man sich dann noch orientieren?“
Ira hat sich dagegen schon immer als intergeschlechtlich erlebt und kennt sich gar nicht anders. „Ich kann nicht sagen, wie es ist als gesellschaftlich reiner Mann oder als reine Frau zu leben.“ Auch mit ihrem Jungennamen hat sie sich noch nie identifiziert. Deshalb ließ sie ihn in einen geschlechtsneutralen Vornamen umändern.
Diskrimierung, Demütigung, Depression
Manche Inter-Personen identifizieren sich trotz ihres intergeschlechtlichen Körpers vollkommen als Mann oder Frau, so Lucie Veith. Andere würden sich zwar intergeschlechtlich fühlen, aber bewusst eine Geschlechterrolle wählen, um Diskriminierungen zu entgehen. Laut Veith werden Inter-Personen in jedem Alter und in allen Lebenslagen benachteiligt.
Auch Ira erfährt immer wieder, wie es ist, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden: „Das Schlimmste waren für mich Morddrohungen, die ich auch im Job bekommen habe“, schildert die 55-Jährige. Außerdem habe sie auch oft nur einen befristeten Job bekommen. Sobald dieser ausgelaufen war, habe jemand anderes die Stelle unbefristet übernommen.
Auch der Alltag ist für Ira nicht leicht. Aufgrund ihres Äußeren wird sie in der Bank nicht zurückgegrüßt, Fahrradfahrer auf der Straße beleidigen sie und einige Bekannte wollen nicht mit ihr gesehen werden. Um solche Situationen zu vermeiden, lebt Ira zurückgezogen. Sie geht weder ins Theater noch ins Kino und kauft nur in bestimmten Geschäften ein.
Die 55-Jährige versucht den Diskriminierungen mit Humor zu begegnen. Denn etwas anderes bleibe einem gar nicht übrig, erklärt sie. Innerlich fühle sie sich in solchen Situationen aber als Mensch vierter oder fünfter Klasse. Die Folgen sind Depressionen. „Es ist wirklich eine Herausforderung, jeden Tag aufzustehen und von vorne anzufangen“, sagt Ira bewegt.
Für Inter-Personen sei die fehlende Anerkennung im Alltag das Schwierigste, meint Lucie Veith. Man müsse immer wieder sein Geschlecht erklären. Auch das Selbstwert- und Körpergefühl kann laut Veith darunter leiden: „Wenn meine Identität ständig in Frage gestellt wird und ich die Information bekomme, dass mein Körper falsch ist, lehne ich ihn irgendwann ab.“
Fluch oder Segen
Wenn inter geborene Menschen in ihrer Kindheit eine Operation an den Genitalien erlebt haben, kann sie das noch mehr verunsichern, meint Lucie Veith. In diesen Eingriffen wird der Inter-Person das Genital genommen und etwas geformt, was einem Normgeschlecht ähnelt. Beispielweise entfernen die Ärzte bei einem Kind mit weiblichem Erscheinungsbild die Hoden. 2016 wurden, nach einer Studie der Ruhr Universität Bochum, etwa 2000 Operationen an den Geschlechtsmerkmalen von intergeschlechtlich geborenen Kindern unter zehn Jahren durchgeführt.
Die Folgen solcher Eingriffe können ganz unterschiedlich sein. Wenn eine Person so eine Operation möchte und gut darüber aufgeklärt ist, empfindet sie diese unter Umständen als Segen, so Lucie Veith. „Wenn man das aber an einem Kind vollzieht, ist das Frühsexualisierung in der schlimmsten Form.“ Lucie Veith kennt viele, die ein Leben lang mit den Folgen dieser Operation kämpfen.
„Diese Operationen hinterlassen Narben auf der Seele.“
Viele Inter-Personen sind durch diese Eingriffe in ihrer Geschlechtlichkeit verunsichert. Laut Lucie Veith gibt ihnen das noch mehr das Gefühl, der Gesellschaft nicht zu genügen. Das kann zu Traumatisierungen führen: „Diese Operationen hinterlassen Narben auf der Seele, die bleiben und einen formen.“ Deshalb setzt sich Lucie Veith für ein OP-Verbot bis mindestens zum 14. Lebensjahr ein. Die Kinder sollen selbst entscheiden können, ob sie diesen Eingriff wollen.
Ira hat sich bewusst gegen eine geschlechtsangleichende Operation entschieden. Sie fand sich selbst schon immer in Ordnung und war und ist mit ihrem Körper im Reinen. Sie wünscht sich, dass Intergeschlechtliche einfach so leben können wie sie sind. Denn wie ihre Oma immer gesagt hat: „Die Welt ist bunt und vielfältig, und jeder trägt dazu bei.“
*Name von der Redaktion geändert
Weitere Informationen über Intergeschlechtlichkeit gibt es beim "Bundesverband für intersexuelle Menschen"
http://www.im-ev.de/
Der Verband bietet außerdem zwei Selbsthilfegruppen an:
http://shg.im-ev.de/
http://xy-frauen.de/