„Außerdem muss ich auch schauen, dass ich die Straße schnell genug überquere, bevor die Autos wieder grün haben.“
Die Stadt mit anderem Blick
„Außer Betrieb!“ ‒ die roten Lichter des Aufzugknopfes leuchten uns entgegen. Unsere Tour nimmt eine überraschende Wendung. Dabei sah es am Anfang des Tages noch ganz anders aus: Um 10:30 Uhr treffen wir uns im Hauptgebäude der Hochschule der Medien in Stuttgart (HdM). Hier studiert Chris im vierten Semester Medienwirtschaft. Wir unterhalten uns zuerst ein bisschen, bevor es in die Stadt geht. Chris wirkt locker und entspannt, er erzählt, wie er seinen Alltag meistert. Um hierher an die Universität zu kommen, fährt er mit seinem Auto und kann so manchen Barrieren aus dem Weg gehen, erklärt er. Im Rollstuhl sitzen und Auto fahren? Auf dem Parkplatz der HdM erklärt Chris, wie er trotz Behinderung Auto fährt:
„Bitte Vorsicht auf Gleis 1!‟
Wir beschließen mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren. Auf unserem Weg zur Bahn-Station wird mir zum ersten Mal klar, dass Chris beim Bahnfahren fast immer auf einen Aufzug angewiesen ist. Wie wir merken, ist damit oft ein Umweg verbunden. Der nächstgelegene S-Bahn-Eingang hat keinen Aufzug und wir müssen zum anderen Aufgang laufen, der viel weiter entfernt ist. Bei den Gleisen angekommen, erklärt mir Chris, wie ich ihm beim Einstieg in die Bahn helfe: „An den ausgefahrenen Griffen der Lehne kippst du mich auf die beiden hinteren Räder und schiebst mich über die Spalte zwischen Bahnsteigkante und S-Bahn-Boden.“ Etwas aufgeregt sind wir beide als die Bahn einfährt. Das Einsteigen ist jetzt auch für mich eine kleine Herausforderung, denn ich hoffe Chris nach seinen Anweisungen in die Bahn helfen zu können. Alles hat geklappt, wir sind drin! Während der Fahrt erzählt Chris, dass nicht nur das Bahnfahren im Alltag eines Rollstuhlfahrers so manche Barrieren mit sich bringt. Höhere Bordsteine, Straßenbahnschienen oder gepflasterte Wege können im Rollstuhl nur mit Mühen bewältigt werden.
Im Zentrum der Stadt angekommen, öffnen wir als Orientierung die „Wheelmap‟. Die App ist eine mobile Hilfe für Rollstuhlfahrer. Auf einer Karte sind zahlreiche kleine Stecknadeln in den Farben Rot, Gelb und Grün gesetzt. Sie kennzeichnen Museen, Bahn-Stationen, Restaurants, Bankautomaten und andere markante Orte einer Stadt. Je nach Farbe kann man ablesen, ob das Ziel voll-, teilweise- oder nicht rollstuhlgerecht ist. An „grünen“ Orten sind alle Räume stufenlos erreichbar und an „roten“ Orten gibt es höhere Stufen oder andere Barrieren. Ganz in der Nähe unseres Standortes befindet sich eine grüne Stecknadel. Die Bar „Mauritius“ behauptet barrierefrei zu sein. Entschlossen steuern wir den Punkt auf der Karte an. Tatsächlich ist der Eingang komplett ebenerdig und Chris kann ohne Probleme in die Bar gehen.
Perspektivenwechsel
Wir sind beide hungrig und beschließen, zur Food-Lounge der Königsbau-Passage zu gehen. Die Königsstraße kommen wir sehr gut entlang und auch der Eingang in die Passage ist ebenerdig. Die Sitzecken der Food-Lounge sind schön geräumig und man kann auch mit dem Rollstuhl gut an einem Tisch Platz nehmen. Als wir uns etwas zu Essen aussuchen, sagt Chris: „Es ist ziemlich schwer, sich hier zu orientieren.“ Im ersten Moment weiß ich nicht wirklich, was er meint, schließlich ist jeder Imbiss gut gekennzeichnet.
Als ich die Sitzgelegenheiten anschaue, sehe ich das Problem. Um jede Sitz-Insel sind brusthohe Trennwände gezogen – zu hoch, um als Rollstuhlfahrer darüber hinwegzuschauen.
Wenn Kleinigkeiten zur Barriere werden
Satt und gestärkt setzten wir unsere Tour außerhalb der Königsbau-Passage fort. Den gegenüberliegenden Schlossplatz können wir einfach erreichen. Problematisch ist dort nicht der etwas sandige Untergrund, vielmehr sind die Kabelbrücken ein echtes Hindernis. Sie liegen bei Veranstaltungen oft mitten auf den Wegen, wie es hier momentan auch der Fall ist. „Solche Hindernisse steuert man am besten immer im rechten Winkel an“, erklärt Chris, „Sonst kann der Rollstuhl auch mal kippen.“ Weiter geht's. Unser Weg führt uns direkt zum Glaskubus. Für Gehbehinderte, die das Kunstmuseum besichtigen wollen, gibt es links eine abgeflachte Seite, über die man ohne Stufen bis zum Eingang kommt. „Die meisten Museen in Stuttgart kann ich kostenlos besichtigen. Da habe ich einen echten Vorteil als Rollstuhlfahrer“, bekräftigt Chris.
Es geht weiter auf der Königsstraße in Richtung Hauptbahnhof. Eine S-Bahn-Säule gibt Auskunft, dass sich der Aufzug in 120 Metern links befindet. Hoffentlich funktioniert der Aufzug auch dieses Mal. Wir haben Glück und kommen rechtzeitig am Gleis an, als unsere Bahn einfährt. Der Einstieg klappt diesmal besser, doch der Wagon ist deutlich voller. Ich bemerke, wie uns manche Leute anstarren. Eine Frau sagt sogar: „Warum haben Sie nicht beim Schaffner vorne nachgefragt? Es gibt Rampen, womit man im Rollstuhl leichter einsteigen kann.“ Nett gemeint, doch ist so eine Hilfe immer das Richtige?
Ein Ende mit Wende
An unserer Zielhaltestelle angekommen, steuern wir den für heute letzten Aufzug an. Wir freuen uns, dass die Tour durch Stuttgarts Mitte so gut gelaufen ist und wir kaum Barrieren feststellen konnten. Allerdings leuchten uns die roten Lichter des Aufzugknopfes mit den Worten „Außer Betrieb!“ entgegen. Im ersten Moment stehen Chris und ich ratlos da. Die langen Rolltreppen können wir unmöglich nehmen und zwischen uns und dem Aufzug auf der anderen Seite liegen die Gleise. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen auf die nächste Bahn warten und eine Station weiterfahren. Zum Glück verlaufen hier die Gleise links und rechts vom Bahnsteig und wir können die Seite wechseln. Dort nehmen wir die S-Bahn und fahren wieder eine Haltestelle zurück. Dorthin, wo wir eben noch auf der anderen Seite standen. Wir hoffen, dass der gegenüberliegende Aufzug funktionsfähig ist. Zum Glück, er funktioniert.