Getötet, weil sie Frauen sind
Laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) wird alle 11 Minuten eine Frau von jemandem aus ihrer Familie ermordet. 2020 waren das insgesamt 47 000 Frauen weltweit. Knapp 60 Prozent dieser Opfer wurden von Intimpartnern oder anderen Familienmitgliedern getötet. Diese Morde gelten als Femizide. Als Femizid wird das Töten von Frauen und Mädchen bezeichnet, weil sie Frauen sind. Der Begriff verdeutlicht, dass es sich um einen besonderen Mord handelt, hinter dem ein frauenfeindliches Motiv steckt. Der Straftatbestand eines Femizids ist in vielen lateinamerikanischen Ländern in den nationalen Rechtsvorschriften verankert. Trotzdem ist laut der UNODC das eigene Zuhause der gefährlichste Ort für lateinamerikanische Frauen.
In Bezug auf Lateinamerika wird oft nicht nur von Femiziden, sondern von „feminicidios“, also Feminiziden gesprochen. Feminizide sind eine erweitere Form der Femizide und implizieren eine staatliche Mitschuld. Straflosigkeit ist ein Faktor, der einen Feminizid begünstigt. Deswegen seien der Staat und dessen Rechtsstrukturen für die Verhinderung verantwortlich, so Katharina Masoud. Sie ist Expertin für Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International.
Große nationale Unterschiede
Zwischen 2017 und 2020 ging die Anzahl an Tötungsdelikten von Frauen außerhalb des eigenen Zuhauses zwar um etwa 20 Prozent zurück, innerhalb der Familie blieb die Zahl aber konstant. Die Gesetzesänderungen scheinen zwar im öffentlichen Raum etwas bewirken zu können, hinter verschlossenen Türen reichen sie aber noch nicht aus. Obwohl die meisten Femizide im Privaten stattfinden, haben Latein- und Südamerika ein gesellschaftliches Problem. Nach Zahlen der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) sind El Salvador, Honduras, Bolivien, Guatemala und die Dominikanische Republik die Länder in Lateinamerika mit der höchsten Anzahl an Feminiziden pro 100.000 Frauen.
Auffällig ist, dass Honduras, Bolivien, El Salvador und Guatemala zu den lateinamerikanischen Ländern mit dem niedrigsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gehören. Grundsätzlich steht ein hohes Bruttoinlandsprodukt für eine niedrige Arbeitslosenquote und geringe Armut. In Honduras, Bolivien und Guatemala liegt der Anteil der Erwerbstätigen im informellen Sektor bei über 70 Prozent. In El Salvador sind es zwischen 50 und 70 Prozent. Gibt es dafür einen Zusammenhang?
In El Salvador gilt beispielsweise seit 2011 das Dekret 520, das Frauen ein gewaltfreies Leben anerkennen und garantieren soll. Zwischen 2012 und 2017 ist die Anzahl der Feminizide von 1,0 pro 100.000 Frauen auf knapp 10 angestiegen. Danach ist die Kurve zwar etwas abgeflacht, trotzdem gehört El Salvador immer noch zu den gefährlichsten Ländern der Welt für Frauen.
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Katharina Masoud sieht die Ursachen vor allem in den gesellschaftlichen patriarchalen Strukturen. Zwar gäbe es natürlich individuelle Motive für Feminizide, trotzdem spielten die fehlende Anerkennung der Gleichwertigkeit der Geschlechter, Misogynie und der Glaube, Frauen und ihren Körper kontrollieren und sanktionieren zu können, ein große Rolle. Gesellschaftliche Strukturen würden zu häufig die Täter und nicht die Opfer schützen. Außerdem schrecke die vorherrschende Straflosigkeit potenzielle Täter nicht davon ab, Straftaten zu begehen. In Mexiko beispielsweise werde nur einer von zehn Morden an Frauen verurteilt.
Viele Feminizide werden nicht als solche behandelt, sondern als Suizid oder als einfacher Mord registriert. Die Dunkelziffer ist also um einiges höher. Nicht in allen Ländern Lateinamerikas werden Feminizide als eigener Strafbestand aufgeführt, deswegen ist die Vergleichbarkeit der Daten sehr schwierig. Häufig wird nur die Zahl der Morde an Frauen betrachtet, wobei unklar ist, bei wie vielen Tötungen es sich um geschlechtsspezifische Gründe gehandelt hat. Außerdem werde häufig nicht so genau ermittelt, ob es sich um einen Feminizid handle, erklärt Masoud.
Strukturelle Lücken und Straflosigkeit erschweren die Strafverfolgung
In 18 Länder Latein- und Südamerikas bestehen Gesetze, die Femizide und Feminizide als Straftat definieren. Trotzdem wird nur in den seltensten Fällen ein Feminizid verurteilt. Das zeigt das Beispiel Mexiko. Strukturelle Lücken, eine flächendeckende Straflosigkeit und eine unzureichende Beweismitteluntersuchung erschweren die Strafverfolgung und Verurteilung der Täter. Es scheint, als hätte der Kontinent ein gesellschaftliches Problem. Tief verwurzelte Geschlechterstereotypen, die durch die Medien reproduziert werden, schaffen ein Gewalt förderndes Klima, in dem Frauen alltäglich diskriminiert werden. Die Frauen erfahren oft psychischen, sexuellen und körperlichen Missbrauch, bevor sie ermordet werden. Teilweise kommt es zu einem Tötungsversuch, der langfristige körperliche und seelische Folgen mit sich bringt.
Feminizide sind kein alleiniges lateinamerikanisches Problem. Katharina Masoud erklärt, dass es auch weltweit in anderen Ländern und Gesellschaften zu Feminiziden komme. In Lateinamerika leisteten feministische Bewegungen gute Arbeit, das Problem ans Licht zu bringen und darauf aufmerksam zu machen. Trotzdem komme es auch in Europa immer wieder zu geschlechtsspezifischen Morden, die es zu bekämpfen gelte.