Sechs Jahre geschlossene Psychiatrie

„Nicht rausgehen, keine Freiheiten, Medikamente“

25. Febr. 2019

Julia hat den größten Teil ihrer Jugend in der Psychiatrie verbracht. Eingewiesen wurde sie wegen Bauchschmerzen und Ohnmachtsanfällen, die auf keine körperlichen Gründe zurückgeführt werden konnten. Während ihrer sechs Jahre Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie, diagnostizierten die Ärzte, dass sie an einer Borderline Persönlichkeitsstörung leidet. Jetzt ist sie 21 und aus der Psychiatrie entlassen. Auch wenn die Zeit für sie viele schlimme Erinnerungen weckt, ist sie bereit darüber zu reden.

Wie fühlst du dich, wenn du an deine Zeit in der Psychiatrie zurückdenkst?

Nicht gut. Ich habe sehr viele schlechte Erfahrungen gemacht und habe viel gelitten, weil ich auch sehr oft, sehr lange eingesperrt war. Es gibt ja die Fixierung in der Psychiatrie, das heißt, man wird komplett ans Bett gefesselt. Das habe ich mehrere Tage erlebt. Wenn ich an die Psychiatrie denke, dann denke ich eigentlich nur noch an Einsperren und Zwang. Nicht rausgehen, keine Freiheiten, Medikamente. Ich denke nicht gerne zurück. Es gab natürlich auch Psychiatrieaufenthalte, die ich freiwillig gemacht habe, zum Beispiel mein letzter Aufenthalt, der mir sehr viel gebracht hat. Daran denke ich wiederum sehr gerne zurück.

Darf man Menschen überhaupt so lange festzuhalten? Würdest du das als Missstand beschreiben?

Ich finde, dass es bei den Ärzten große Missstände gibt, wenn Menschen tagelang ans Bett gefesselt oder in einen Raum gesperrt werden, weil man sich nicht besser zu helfen weiß. Das wird sehr häufig gemacht. Viel zu häufig.

Ich wurde schon mit dreizehn Tage lang fixiert. Das ist für ein Kind noch mal schlimmer, als für eine Erwachsene, denke ich. Es wurden mir auch oft, weil ich die Bedarfsmedikation nicht genommen habe, direkt eine Spritze reingerammt und ich wurde über Tage in einem Raum gelassen. Klar macht man das normalerweise für den Notfall, dass sich eine Person nicht schaden oder verletzen kann, aber das finde ich sehr gewissenlos, Menschen tagelang alleine zu lassen, tagelang wirklich einzusperren. Bei mir hat das alles nur schlimmer gemacht.

Die Handhabung der Fixierung ist streng geregelt und verläuft nach der S3- Leitlinie zur „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ von der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.). Eine längere freiheitsentziehende Maßnahme muss man richterlich genehmigen lassen. Jede Fixierung muss dokumentiert und eingereicht werden, vor Allem falls diese über einen längeren Zeitraum erfolgt. Bei Minderjährigen müssen die Erziehungsberechtigten vor der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen zustimmen. Liegt dies vor, entscheidet das Familiengericht über deren Zulässigkeit. Ob all diese Richtlinien in Julias Fall erfüllt wurden, kann nicht nachverfolgt werden. Doch auch eine Fixierung über mehrere Stunden ist laut Psychologe Sven Cornelisse, nach richterlichem Einvernehmen, durchaus möglich, sofern der Patient akut gefährdet ist.

Wie haben sich diese Maßnahmen angefühlt?

Man kann sich bei der Fixierung einfach nicht bewegen, weder Arme noch Beine noch Kopf. Immer wenn ich fixiert war – und das über Stunden – hatte ich Panikattacken. Wenn man sich nicht mehr bewegen kann, entsteht eine ganz extreme Panik und deswegen wird man nur noch unruhiger und je unruhiger man wird, desto mehr Panik bekommt man. Das Gefühl kann ich jetzt sogar noch nachvollziehen, das ist ein ganz schlimmes Gefühl. Auch wenn man tagelang eingesperrt ist, bekommt man einfach nur Panik, und man kann‘s nicht ändern und versucht sich zu beruhigen. Gerade auch bei einer Depression macht es die Person nur noch depressiver. Ich habe jetzt noch Angst in einem Raum zu sein und nicht raus zu können. Es fühlt sich ein bisschen an, ich weiß nicht, wie Knast oder einsperren.

Der Begriff der Fixierung ist weitläufig. Daher ist dies bereits bei dem Anbringen eines Gitters um ein Krankenhausbett der Fall. Julia spricht hier von der sogenannten 11-Punkt-Fixierung, bei der zusätzlich der Kopf bewegungsunfähig gemacht wird.

Weswegen wurden damals diese Maßnahmen ergriffen?

Um mich zu bestrafen, dafür, dass ich mich verletzt habe oder dass ich mich umbringen wollte, oder weil die meinten ich brauche Schutz. Aber die Fixierung war viel zu lange um wirklich als Schutz zu dienen.

Was hat die Psychiatrie rückblickend mit dir gemacht?

Als ich in die Psychiatrie kam, hatte ich zwei Symptome. Ganz viel ist dann dadurch entstanden, weil sich Psychiater und Therapeuten falsch verhalten haben, mir geschadet haben und ich durch das Einsperren den Lebenswillen verloren habe. Ich hatte mich noch nie versucht umzubringen, bevor ich in die Psychiatrie kam. Durch dieses Einsperren bin ich nur noch depressiver geworden, habe noch weniger Sinn gesehen zu leben. Wenn ich versucht habe mich umzubringen, kam es wieder zum Einsperren.

Würdest du also sagen, dass die Aufenthalte dir nicht geholfen haben?

Wenn man es rein therapeutisch sieht, habe ich zwar Fortschritte im Umgang mit meiner Erkrankung gemacht, aber für meine Heilung hat das nicht viel geholfen. In der geschlossenen Psychiatrie habe ich aber trotzdem Menschen getroffen, die helfen konnten.

Welche Mitmenschen konnten dir denn besonders helfen?

Manchmal waren es sogar die Mitpatienten, die einen aufbauen konnten oder mit denen man zum Teil, wenn ich mal in die Stadt durfte oder Ausgang hatte, auch schöne Zeiten erleben konnte. Was sehr viele nicht vermuten: Man kann auch mal in der geschlossenen Psychiatrie Spaß oder Freude haben. Es waren vielleicht auch Betreuer, zu denen ich gehen konnte und die mir weitergeholfen haben, wenn ich Probleme hatte oder wenn ich in einer Krise war.

Gab es auch Momente, in denen dir deine Mitpatienten geschadet haben?

Ja, das leider auch ganz oft. Man muss sich vorstellen, in einer geschlossenen Psychiatrie sind, gerade in der Erwachsenenpsychiatrie, viele verschiedene Menschen mit vielen verschiedenen Krankheiten. Ich hatte immer einen ganz guten Draht zu den Leuten und dann haben die mir natürlich auch ganz schlimme Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Das waren sehr sympathische Patienten.

Mir hat es aber im Nachhinein geschadet, so viel Schlimmes jeden Tag zu hören. Das fand ich dann zum Beispiel auch ganz schlimm, weil ja gerade auch ich mein Leben sehr negativ gesehen habe. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass es nur schlimme Geschichten gibt und das Leben nur aus schlimmen Ereignissen besteht.

Hast du viel von deinen Mitpatienten mitbekommen?

Ja auf jeden Fall. Da waren Patienten, die haben die ganze Nacht durchgeschrien, die einfach um sich geschlagen haben oder die sich drei Tage lang nicht bewegt und nicht gesprochen haben. Die lagen mit offenen Augen im Bett, aber waren nicht ansprechbar. Also es gibt viele Psychiatrie-Klischees, die man mitbekommt. Ich habe schon sehr früh gelernt, wie Erkrankungen funktionieren und warum die Patienten das machen.

Was hat das rückblickend mit dir gemacht? Welche Spuren hat die Psychiatrie hinterlassen?

Viele Geschichten begleiten einen und das vergisst man nicht so schnell.

Ich lebe jetzt ein sehr normales Leben, aber ich muss oft daran denken, dass das, was ich in der Psychiatrie erlebt habe, kein normales Leben war. Es waren auch ziemlich viele Abgründe und Leid, die man da gesehen hat. Und wenn ich zur Arbeit gehe und ich die einfachsten Sachen mache, ist mir das immer noch im Gedächtnis.

Hast du heute noch Kontakt zu Mitpatienten?

Nein, weil es einen schon eher noch runterzieht. Ich habe, denke ich mal, das Gröbste überstanden und möchte einfach damit abschließen. Ich habe mir auch bewusst Menschen gesucht, die eben gesund sind, weil ich auch einfach keine Kontakte mehr möchte, die krank sind. Ich will nicht mehr nur über Krankheit reden. Ich will jetzt zurück ins richtige Leben, weil Krankheit hatte ich ja jetzt sechs Jahre lang.

Was sollte sich deiner Meinung nach ändern?

Mehr Spezialkliniken und mehr Humanität in Psychiatrien. Das heißt, dass Sachen, die von einzelnen Ärzten angeordnet werden, von Pflegern einfach ausgeführt werden, ohne nach dem Sinn zu fragen. Sowas sollte sich ändern.

Außerdem soll man Menschen nicht verurteilen, schon gar nicht wegen ihrer Erkrankung oder ihrem Verhalten. Die Leute, die so viel Scheiße in ihrem Leben erlebt haben, werden das eben nicht sofort sagen.

Ich fände es schön, so über psychische Erkrankung reden zu können, wie wenn man sich ein Bein gebrochen hat. Es ist halt eben auch nur eine Erkrankung. Vielleicht ist sie psychisch, aber deswegen ist niemand gleich verrückt. Ich würde mir wünschen, dass man darüber offen reden kann und dass das nicht mehr ein Tabuthema ist, für das sich Menschen schämen müssen.

Der Diplom Psychologe Sven Cornelisse sieht das Problem mitunter darin, dass Psychiatrien sehr schnell starken Personalmangel haben. Es sei schwer Personen zu finden, die in diesem Bereich arbeiten wollen.

Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine psychische Erkrankung. Typisch für sie sind Impulsivität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild aufgrund einer gestörten Selbstwahrnehmung.

Bei dieser Persönlichkeitsstörung sind bestimmte Vorgänge in den Bereichen Gefühle, Denken und Handeln beeinträchtigt. Dies führt zu problematischen und teilweise paradox wirkenden Verhaltensweisen in sozialen Beziehungen und sich selbst gegenüber.

Sie wird häufig von weiteren psychischen Erkrankungen begleitet, wie zum Beispiel Depressionen und der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.