„Dann sind wir natürlich davon ausgegangen, dass wir wirklich nur Medikamente bekommen, die nicht auf der Dopingliste stehen und unschädlich sind“.
Ohne Rücksicht auf Verluste

Ihr Kopf neigt sich nach unten als sie überlegt. „Man hinterfragt ja nicht“. Dagmar Kersten sitzt in ihrem Büro und erinnert sich. Die Tür ist geschlossen und außer ihrer Stimme ist in dem Raum nichts zu hören. „Wenn die Mutter dir als Kind sagen würde, du nimmst das, das tut dir gut. Dann fragst du nicht ist das jenes oder solches“, beim letzten Satz ziehen sich ihre Augenbrauen ein Stück nach oben. „Man nimmt das, weil man den Menschen vertraut“.
Dagmar Kersten ist eine ehemalige Kunstturnerin der DDR. Heute ist die 54-Jährige ein anerkanntes Dopingopfer. Mit sieben Jahren begann sie mit dem Kunstturnen. Im Alter von neun Jahren ging sie in das Turninternat des SC Dynamo Berlin. Das hieß jede Woche bis zu 40 Stunden Training. Eine körperliche Belastung, die bei vielen Turnerinnen zu Verletzungen führte.
Bei den olympischen Spielen 1988, mit gerade 18 Jahren, gewann sie die Silbermedaille am Stufenbarren. Doch bei ihr sorgte der Erfolg nicht für Freude: „Ich war völlig aufgelöst, der Druck war so hoch und ich habe mir damals gesagt, ich will nie wieder ein Gerät anfassen.“ Kurz darauf beendet sie ihre Karriere.
Das System mit den Athlet*innen der DDR
Ab 1974 wurde in der DDR systematisch gedopt. Mit Erfolgen im Sport sollte die DDR an Ansehen gewinnen. Circa 15.000 Sportler*innen wurden jahrelang, oft unwissentlich, zwangsgedopt. „Relativ früh, haben wir Vitaminpräparate bekommen. Schon mit neun und zehn Jahren. Und dann wurde auch nicht mehr groß gefragt“, erinnert sich Dagmar Kersten. Bei ihr hat das Doping vermutlich mit zwölf oder 13 Jahren begonnen. Skeptisch war sie damals noch nicht.
Erst mit circa 18 Jahren kamen bei ihr Zweifel auf. Doch bei den Dopingkontrollen war nichts nachzuweisen: „Dann sind wir natürlich davon ausgegangen, dass wir wirklich nur Medikamente bekommen, die nicht auf der Dopingliste stehen und unschädlich sind“.
Pillen, Nasenspray, Kaugummis – Dopingmittel wurden ihr in verschiedenen Formen verabreicht. Dagmar Kersten erhielt unterschiedliche Präparate. Heute sind einige davon nicht mehr zugelassen. Dazu gehört auch „Oral-Turinabol“. Dagmar Kersten erhielt das Medikament als sie verletzt war. Das sind kleine blaue Pillen, die den Muskelaufbau beschleunigen sollten. Sie waren die meistgenutzten anabolen Steroide in der DDR.
Was sind anabole Steroide?
Anabole Steroide sind künstlich hergestellte Substanzen. Ihre Struktur ähnelt dem männlichen Sexualhormon Testosteron. Sie haben eine muskelaufbauende Wirkung (anabol). Ebenso haben sie eine androgene Wirkung. Damit gemeint ist die Entwicklung typischer männlicher Geschlechtsmerkmale. Dazu zählen eine stärkere Körperbehaarung und eine tiefe Stimme.
Quelle: drugcom.de
Wilhelm Bloch, Universitätsprofessor vom Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der Sporthochschule Köln erklärt: „Es war deswegen beliebt, weil es sichere, schnelle Erfolge gebracht hat.“ Aktuell ist das Medikament nicht mehr auf dem Markt.
Doping hinterlässt seine Spuren
Heute spürt die ehemalige Kunstturnerin die Folgen des Dopings: Verschleiß in den Gelenken, Arthrose, Probleme in Schulter- und Hüftgelenken, Muskelverspannungen und sechs Operationen am Fußgelenk. Nicht alle Beschwerden können klar dem Doping zugeschrieben werden. Muskelverspannungen und Gelenke seien ein Grenzbereich, erklärt Wilhelm Bloch. Gerade im Leistungssport seien Belastungen auf die Gelenke viel höher, betont er.
„Wenn die Muskulatur das Skelett nicht mehr unterstützt, dann werde ich irgendwann, hat man mir gesagt, im Rollstuhl sitzen“
Das kennt auch Dagmar Kersten. Harte Landungen von Doppelsalti, bei denen bis zum 25-fachen des eigenen Körpergewichts wirkten, waren Teil ihres Trainings. „Wenn die Muskulatur das Skelett nicht mehr unterstützt, dann werde ich irgendwann, hat man mir gesagt, im Rollstuhl sitzen“, erklärt die 54-Jährige. Heute hält sie sich mit Kampfsport fit. Durch die trainierte Muskulatur sollen die Gelenke entlastet werden.
Andere Folgen könne man eindeutiger auf das Doping zurückführen, weiß Wilhelm Bloch. Dazu zählen ein steigendes Krebsrisiko und Organschädigungen. „Muskelhartspann“ sei auch sehr stark mit Doping assoziiert, so Wilhelm Bloch. Dabei ist die Muskulatur ständig angespannt und es kommt zu schmerzhaften Muskelverhärtungen.
Auch Schäden am Herzkreislaufsystem seien häufig. Unterschiedliche Dopingsubstanzen wirken sich unterschiedlich auf das Herz aus. Stimulantien beispielsweise führen zu Herzrhythmusstörungen.
In jungen Jahren zu dopen, führt zu größeren Schäden. „Im Endeffekt ist es so, dass gerade Doping in dieser sehr vulnerablen Phase, besonders gefährlich ist“ , so Bloch. Die Schäden seien größer, weil noch mehr im Organismus passieren könne. In dieser Phase bilde sich der Körper erst richtig aus. „Der Hormonspiegel baut sich auf. Alles, was im Endeffekt die normale Steuerung stört, kann zu bleibenden Schäden führen.“ Ausgerechnet in der Pubertätsphase anabole Steroide zu bekommen, störe die Entwicklung bei Frauen.
Bei sich selbst konnte Dagmar Kersten keine Veränderung feststellen, als sie gedopt war. Besondere Behaarung, Dopingakne und eine tiefe Stimme blieben aus. Es sei ein Prozess gewesen. Gedopt wurde in Verletzungsphasen oder um anzutrainieren. Wilhelm Bloch kann nachvollziehen, dass die Sportlerin keine Veränderung an sich bemerkte: „Die Sportlerin ist unter extrem hohen Stress mit einem extrem hohen Trainingsvolumen“. Natürlich sei der Körper da manchmal schlapp. „Die Frage ist, ob ein Mensch in dem Alter auf die Veränderungen bei sich selbst genauso achtet“, überlegt der Mediziner. Denn die gedopte Person, sei weiterhin leistungsfähig und könne weiter trainieren. Sogar besser und mit größeren Leistungssprüngen als andere.
Doch diese Leistungssprünge sind im Profisport nicht so groß wie man meinen könnte und damit auch nicht direkt offensichtlich. „Umso mehr man sich den Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit und der physiobiologischen Anpassung des Körpers annähert, umso weniger groß sind die Sprünge, die man dadurch machen kann“, erklärt Wilhelm Bloch. Bei Profisportler*innen seien genau ein oder zwei Prozent mehr Leistung entscheidend. Sie können über National- oder Weltklasse entscheiden. Im Vergleich zu Leistungssportler*innen würde ein Durchschnittsbürger vermutlich schon recht große Leistungssprünge machen, erklärt Wilhelm Bloch.

Wilhelm Bloch spricht außerdem von psychischen Langzeitfolgen. Aggressivität, Stimmungsschwankungen und depressive Symptome können von der Einnahme der anabolen Steroide kommen. Diese Folgen können auch das ganze Leben lang bleiben.
Mit der Zeit, berichtet Dagmar Kersten, seien körperliche Beschwerden besser geworden. Trotzdem machen sie sich immer wieder bemerkbar. Lange Autofahrten oder auf dem Rücken einschlafen bereiten ihr Atemprobleme. Sie hält kurz inne und ihre Augen wandern einen Moment nach oben. „Ich könnte da jetzt auch ganz traurig sein, bin ich aber nicht“. Ein leichtes Lächeln deutet sich an und wird mit den nächsten Worten größer. „Leben ist zu kurz“, schmunzelt Dagmar Kersten. Für sie ist die Sache abgeschlossen. Mal gibt es bessere und mal schlechtere Phasen. Heute sagt sie, führt sie sogar mehr Leben als andere.
In der Audiospur spricht Dagmar Kersten von Dopingverträgen. Sie meinte jedoch Profiverträge.