Protest 6 Minuten

Schreiende Kleidung – Statement statt Style

Handmaid-Protest vor dem Bundestag
Faust hoch, Umhang an. Protest setzt vermehrt auf Kleidung. Das zeigt auch die Gruppe HandmaidsRiot. | Quelle: HandmaidsRiot
21. Mai 2025

Umhang und Haube statt Anzug und Krawatte. Politische Partizipation passiert auch außerhalb des Bundestags. Aber seit wann haben Proteste einen Dresscode und was hat es damit auf sich? Eine Analyse.

Inhaltswarnung für Leser*innen

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Leise und doch laut. Wird Kleidung zum Protestsymbol, braucht es weder Protestschilder noch Reden. Ob grelle Roben mit weißer Haube oder ein blauer BH, wenn der Kontext passt, kann Kleidung ausdrucksstärker sein, als Worte. Das weiß auch Käpt'n, die Gründerin von „HandmaidsRiot“, einer queerfeministischen Bewegung, die sich in lila Roben und weißen Hauben präsentiert. „Käpt'n“ ist ihr Riot-Name. Über diesen läuft die Kommunikation innerhalb der Gruppe.

Sie beziehen sich nicht als einzige feministische Bewegung auf den dystopischen Roman „The Handmaid’s Tale“. 

Was hat es mit „The Handmaid’s Tale“ auf sich?

Unterdrückung, Mord und ritualisierte Vergewaltigungen – So zeichnet Margaret Atwood 1985 in ihrem Roman eine dystopische Zukunft. Im christlich-fundamentalistischen Staat Gilead haben Frauen nahezu keine Rechte. Fruchtbare Frauen werden als „Handmaids“, beziehungsweise Mägde, ausgebildet, deren Zweck es ist, Kinder für die elitäre Oberschicht zu gebären. In einem monatlichen Ritual vergewaltigen die hierarchisch am höchsten positionierten Männer die Handmaids mit Unterstützung ihrer Ehefrauen.

Kleidung dient in der fiktiven Klassengesellschaft als Ausdruck des sozialen Status. Handmaids tragen rote Roben, die Ehefrauen aus der Oberschicht ähnliche in blaugrün.

2017 löste der Serienstart der gleichnamigen Serie in den USA „eine gewisse Welle los“, meint Herolina Krasniqi, die sich als Medienwissenschaftlerin 2022 mit dem Thema befasste.

Ein roter Faden um den Globus

Dass Handmaid-Kleidung mittlerweile international als Protestsymbol verwendet wurde, kann die Politikwissenschaftlerin und Soziologin Damla Keşkekci gut nachvollziehen: „Es ist eine erstaunliche Serie, die sich auf viele Kontexte beziehen kann, in denen die Rechte von Frauen unterdrückt werden. So wurde es in Irland, in Argentinien und in Polen verwendet.“ Sie ist Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und hat die Serie geschaut.

Ob Polen oder Argentinien, verschiedene Orte bringen verschiedene Kontexte mit sich. Deswegen ist das Ziel der Proteste teils unterschiedlich. Oft steht aber der Kampf für Abtreibungsrechte im Vordergrund, wie etwa in den USA. Manchmal sind es auch Frauenrechte im Allgemeinen. Beispielsweise zeigte der Handmaid-Marsch in London Solidarität mit iranischen Frauen, die sich bei Protesten gegen Diskriminierung in Lebensgefahr begeben hatten.

Auch die Protestformen unterscheiden sich: Manchmal tragen die Protestierenden Schilder mit Forderungen wie 2017 in Texas oder 2022 in Washington vor dem Kapitol. „Keep your laws off my body“ hieß es dort unter anderem auf einem Schild.

Andere Male, wie 2017 in Ohio, verzichten die Proteste gänzlich auf Worte. Der stille Protest kritisierte ebenfalls einen Gesetzesentwurf, der Abtreibungsrechte einschränken sollte. Es zeigte sich: Auch Schweigen kann ausdrucksstark sein. „Die Ansammlung der Körper, einfach die Anwesenheit, bringt dann die Präsenz der Unterdrückten zum Ausdruck“, erklärt Eva Kimminich, Professorin für Kulturwissenschaften und Semiotik. Schweigen spielt auch im Roman eine Rolle: Den Handmaids ist Sprechen weitgehend verboten. Das Schweigen solle im Roman die Unterwürfigkeit symbolisieren, meint Krasniqi. Im Protestkontext werde es umfunktioniert und dekontextualisiert.

Rosarote Brille ab, rotes Gewand an

Trotz der Unterschiede bleibt eine Konstante: die Kleidung. Weiße Hauben und rote Roben wurden international zum Protestsymbol. 
Die Farbgebung wählte die Autorin alles andere als zufällig. „Rot steht für die Fruchtbarkeit, für den weiblichen Körper, für die Reproduzierbarkeit“, meint Krasniqi. Die Farbe passt daher zum Weltbild des fiktiven Regimes. Dieses reduziert fruchtbare Frauen in ihrer Rolle als Handmaids auf ihre Gebärfähigkeit. Rot mache außerdem jeden Fluchtversuch zwecklos, erklärt Krasniqi. „In einer Welt voller Grautöne zieht Rot eine Menge Aufmerksamkeit auf sich“, so Keşkekci.

Lila statt Rot

In Deutschland sieht man die Handmaids nicht in Rot, sondern in Lila. Das ist bewusst so gewählt. „Lila steht für uns auf jeden Fall für den Queerfeminismus“, erzählt Käpt’n. Sie betont, die Gruppe wolle ein „safer space“ für alle FLINTA*-Personen sein: „Es ist keine Frauenbewegung, es ist eine FLINTA*-Bewegung.“

„Lila steht für uns auf jeden Fall für den Queerfeminismus“

HandmaidsRiot-Gründerin Käpt'n
Eine Frau in lila Robe und weißer Haube richtet ihre Faust nach oben
Auf dem Papier rot, auf der Straße lila. Durch die Farbe des Umhangs distanziert sich HandmaidsRiot von Atwoods Roman. | Quelle: HandmaidsRiot
Frauen in lila Roben und weißen Hauben zeigen nach vorne
"Feministischer Kampftag" statt "Weltfrauentag" hieß es am 8. März 2025 für HandmaidsRiot bei einem Protest in Hamburg. | Quelle: „Big Mama" (Riot-Name)
Eine Gruppe aus Frauen in lila Umhängen und weißen Hauben läuft mit Protestschildern zu Femiziden durch eine Straße
Fiktion endet bei den Kostümen, denn die Gruppe macht auf reale Probleme wie Femizide aufmerksam. | Quelle: „Big Mama" (Riot-Name)
Frauen in lila Roben und weißen Umhängen stehen in einem leeren Raum
(Riot-)Name, Pronomen... Jede Aktion der Gruppe beginnt mit einem „Check-In". | Quelle: HandmaidsRiot

Hintergrund ist die Kritik an einzelnen Aspekten aus The Handmaid’s Tale. Buch und Serie thematisieren das Leiden von queeren Menschen und BIPOC-Personen kaum. „Die Serie, oder die Buchvorlage, macht es erst zum Problem, wenn es auch weiße Personen betrifft. Weiße heterosexuelle Personen, weiße Cis-Menschen“, meint auch Krasniqi.

Dazu kommt auch die Kritik zu Atwood als Person: „Wir übernehmen zwar die Optik aus der Serie, distanzieren uns aber von der Autorin des Buches, weil Margaret Atwood in der Vergangenheit mit Aussagen aufgefallen ist, die darauf schließen lassen, dass sie trans-exklusiven Feminismus betreibt“, sagt Käpt’n. Diesen Schluss zogen auch viele X-Nutzer*innen, nachdem Atwood einen Artikel mit dem Titel „Why Can’t We Say ‘Women‘ Anymore?“ geteilt hatte. Atwood selbst stritt die Vorwürfe ab. Die Autorin des Artikels sei keine „TERF“, betreibe also keinen trans-exklusiven radikalen Feminismus.

Hinter der Haube

Eingeschränktes Sichtfeld und abgedämpfte Akustik – das bringe die Haube mit sich. Andererseits sei das Outfit super hilfreich. „Ich bin dann nicht mehr Einzelperson, sondern verschwimme ein bisschen in dieser Masse und wir sind eine Gruppe. Das gibt uns auch Schutz und das lässt uns auch stärker fühlen“, beschreibt Käpt’n.

„Ich bin dann nicht mehr Einzelperson, sondern verschwimme ein bisschen in dieser Masse und wir sind eine Gruppe."

HandmaidsRiot-Gründerin Käpt'n

Am Aktionsort gebe es immer wieder Menschen, die den Bezug zur Serie nicht verstehen würden, meint Käpt’n. „Seid ihr irgendwelche Mittelalter-Menschen oder eine Sekte?“ sei manchmal die Reaktion. HandmaidsRiot habe deshalb bei Performances auch Flyer- und Outreach-Personen, die Anwesende über den Protesthintergrund aufklären. Es gebe aber auch immer Personen, die sofort den Bezug verstehen. 

Neben Verwirrung gebe es auch Anerkennung und Ablehnung. Käpt’n erzählt von „pöbelnden Männern“. Auf der anderen Seite erlebe sie auch viel Zuspruch. „Es kamen mehrere ältere Damen so ganz nah an mich ran, weil sie ja mein Gesicht nicht sehen konnten und haben mir dann zugeflüstert, dass sie das ganz toll finden, was wir machen“, erinnert sich Käpt’n.

Vom Kleiderbügel zum Symbol

Auch andere Kleidung wurde bereits zum Protestsymbol. Entstehen können diese nicht nur aus der Literatur, wie bei der Handmaid-Kleidung, oder aus historischen Kontexten, sondern auch direkt aus der Protestsituation. Das zeige das Beispiel des blauen BHs, erklärt Kimminich. Dieser sei 2011 bei einer Demonstration in Ägypten zum Protestsymbol geworden. Als eine Demonstrantin von Soldaten über die Straße geschleift und misshandelt wurde, öffnete sich ihre Bluse. Darunter zu sehen: der blaue BH. Um auf die Repression des Militärs hinzuweisen, landete ein Foto der Aktion laut Kimminich nicht nur in der lokalen Zeitung, sondern auch auf einem Protestplakat. Auch als Grafitti habe man es überall an die Wände Kairos gesprüht.

Im Gegensatz zur Handmaid-Kleidung blieb der blaue BH ein lokales Protestsymbol. Dass sich Symbole wie die Handmaid-Kleidung über Kulturen hinweg verbreiten, begründet die Kulturwissenschaftlerin mit einem jeweils gemeinsamen Kontext, etwa Feminismus oder Antirassismus.
Auch die Medialität unterstützt diese Entwicklung. Sie helfe, Botschaften aus einem sehr lokalen Kontext herauszutransportieren, meint Keşkekci.

Der Macht der Medialität sind sich auch viele Promis bewusst. Beispielsweise trug die Klimaaktivistin Luisa Neubauer auf der Eröffnung der Berlinale 2025 ein Kleid mit dem Aufdruck „Donald & Elon & Alice & Friedrich?“ auf der Vorder- und dem Aufdruck „Democrancy Dies In Daylight!“ auf der Rückseite. Sie habe auf die derzeitige weltpolitische Lage aufmerksam machen wollen. Hintergrund war die gemeinsame Abstimmung der CDU mit der AfD.

Angst vor dem Ende der Demokratie, findet sich unter anderem auch im Onlinediskurs auf Reddit. Keşkekci machte in einem Subreddit die Beobachtung, Menschen seien beängstigt, die Dystopie aus The Handmaid’s Tale könne deren Realität werden. „Ivanka Trumps Outfit bei der Amtseinführung half wirklich auch nicht“, meint sie. Donald Trumps Tochter trug Blaugrün. Die Farbe wird in der Dystopie von den Ehefrauen der Oberschicht getragen, welche oft als antifeministische Komplizinnen gezeichnet werden. Keşkekci meint, es habe den Beiklang von „Ich bin euch überlegen und wir nehmen Frauen die Rechte weg“ gehabt.

Ob man Kleidung bewusst als politisches Statement einsetzt oder einfach nur trägt, sie kann ausdrucksstark sein. Aufmerksamkeit zieht sie selbst dann auf sich, wenn man den Kontext nicht auf Anhieb versteht. Das bietet nicht nur Anwesenden, sondern auch den Medien, einen Anlass, sich mit dem dahinterliegenden Thema auseinanderzusetzen. So werden greller Umhang und weiße Haube vom Kostüm zum politischen Statement.