„Es fehlen Vorbilder, wie gesunde Männlichkeit aussehen kann.“
Von Null auf Nähe

Inhaltswarnung für Leser*innen:
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als sensibel empfunden werden könnten, darunter Gewalt und Missbrauch, Tod und Trauer, psychische Gesundheit, Diskriminierung und Vorurteile sowie Krieg und Konflikte. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Eine Geburtstagsparty in München. Zehn, fünfzehn Leute feiern ausgelassen in einem Partykeller, während Musik aus den Boxen dröhnt. Es wird laut gelacht, ein paar Leute tanzen. Und Martin ist mittendrin – zumindest physisch. „Ich konnte äußerlich mitmachen, aber innerlich ist nichts angekommen“, erinnert er sich an diesen Moment zurück. Ihm wird klar, wie einsam er sich fühlt, und dass das nicht so bleiben soll.
Martin Finger ist mittlerweile 47 Jahre alt und in einer festen Partnerschaft. Doch das war nicht immer so, denn in den ersten 32 Jahren seines Lebens hatte er weder Beziehungen noch Sex. Dass er sich das anders wünschen würde, war ihm schon immer bewusst. Als irgendwann die Belastung durch seine Partnerlosigkeit größer wurde, begann er im Internet zu recherchieren. 2009 stieß dann er auf den „AB-Treff“, das größte deutschsprachige Onlineforum für „Absolute Beginners“. Laut Martin sind die Menschen im Forum sehr unterschiedlich. Doch was sie alle verbindet, ist der Leidensdruck, den sie durch ihre Situation empfinden.
Absolute Beginners
„Absolute Beginners“ ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die wenig bis keine sexuellen und partnerschaftlichen Erfahrungen haben, und das unfreiwillig. Verwendet wird der Begriff hauptsächlich in deutschsprachigen Online-Communities, wie beispielsweise dem „AB-Treff“.

Fühlen wurde gefährlich
Beziehungscoach Franciska Wiegmann-Stoll arbeitet schon seit Jahren mit Menschen zusammen, die unter Partnerlosigkeit oder fehlendem Sexualleben leiden. Die Unfreiwilligkeit und das Gefühl der Einsamkeit können starke Traurigkeit bis hin zur Depression verursachen.
Auch in Martins Leben ist Traurigkeit immer schon spürbar gewesen, während er zu anderen Gefühlen jahrelang keinerlei Zugang hatte. Gründe für seine emotionalen Blockaden sieht er in seiner Jugend, die von Mobbing geprägt war. Gefühle zuzulassen wurde gefährlich für ihn – so gefährlich, dass es ihn fast das Leben gekostet hätte. Als er seine Augen am Tag nach seinem Suizidversuch doch wieder öffnete, hatte keiner aus seinem Umfeld etwas mitbekommen. Ernüchtert stellt er damals fest: „Die Menschen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht wirklich mitkriegen, unter welchen Problemen du leidest oder was gerade mit dir los ist.“
„Um so eine Erfahrung zu überstehen, hat man eigentlich gar keine andere Wahl, als sich einen Schutzpanzer anzulegen“, so Franciska Wiegmann-Stoll.
Gerade Mobbing in der Jugend kann sich langfristig auf das Flirtverhalten auswirken. Denn wenn man als Teenager Zurückweisung erfährt, erfordert es viel Mut, wieder auf Menschen zuzugehen. Erschwerend kommt dazu, dass man diese Erfahrungen im Erwachsenenalter oftmals allein nachholen muss. „Eine Gruppe von Gleichgesinnten gibt Kraft.“, erläutert Franciska Wiegmann-Stoll.
Die größte Herausforderung für Martin war seine Angst davor, sich übergriffig zu verhalten. Laut Franciska Wiegmann-Stoll sind Ängste der Hauptgrund dafür, dass es Menschen schwerfällt, Bindungen aufzubauen. „Das hat nichts mit äußeren Dingen wie Attraktivität oder Intelligenz zu tun“, stellt sie klar. Und auch die Angst vor übergriffigem Verhalten ist keine Seltenheit. Den Grund dafür vermutet sie in gesellschaftlichen oder persönlichen Erfahrungen, von denen sich besonders Männer distanzieren wollen. Und sie findet: „Es fehlen Vorbilder, wie gesunde Männlichkeit aussehen kann.“
Kann man Nähe kaufen?
Vor über 20 Jahren spielte Online-Dating noch keine große Rolle, also versuchte Martin sein Glück bei einer Partnervermittlung. Kurz darauf war er ein paar hundert Euro leichter, vier Kontakte reicher und wurde nach einer 90-minütigen Autofahrt von seinem Date auch noch versetzt – ein kompletter Reinfall. Um sexuelle Erfahrungen zu sammeln, spielte er auch mit dem Gedanken eine Karriere als Pornodarsteller zu starten oder ein Bordell zu besuchen. Jedoch kam er schon bald zu dem Schluss, dass sich sein Wunsch nach echter Intimität so nicht erfüllen ließe.
Auch Franciska Wiegmann-Stoll ist der Meinung, Intimität und der sexuelle Akt seien voneinander zu trennen, auch weil die beiden Dinge ganz andere Fähigkeiten erforderten. Um erste Hürden zu überwinden, könnten sexuelle Dienstleistungen jedoch für einige Menschen eine Option sein. Langfristig hält sie es für sinnvoll, nicht nur neue Skills zu erlernen, sondern sich selbst auch zu reflektieren: „Wenn man sich nicht auch mit der Vergangenheit auseinandersetzt, bleibt alles, was man lernt rein technisch. Nur wenn man weiß, woher die Probleme kommen, kann man die neue Technik auch leben.“
Wissen hilft
Als Martin vor 16 Jahren auf den „AB-Treff“ stieß, begann er, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Hauptsächlich online, doch vereinzelt kamen auch persönliche Treffen zustande. So bekam er immer mehr Input, mit welchen Themen er sich befassen wollte: die eigene Männlichkeit, körperliches Erleben, Flirttechniken und sexuelle Spannungen interessierten ihn besonders. Also meldete er sich bei verschiedenen Seminaren an, wo er theoretische und praktische Erfahrungen sammelte. „Wissen hilft – dann ist man sich einer Situation bewusst und kann entscheiden, was man an seinem Verhalten anpassen möchte“, reflektiert er.
Er erkennt, dass es in Ordnung oder sogar wichtig für eine Kontaktaufnahme ist, das eigene Interesse zu signalisieren: „Das soll nicht heißen: Jetzt darf ich alles machen. Es geht darum, die Grenzen des anderen zu wahren und darum, dem Gegenüber die Verantwortung zu überlassen, die eigenen Grenzen zu signalisieren.“
Auf den Seminaren fühlte er sich integriert, was ihm half, alte Wunden zu heilen. So fiel es ihm anfangs schwer, nach einem Seminar wieder im Alltag anzukommen. Doch schon im zweiten Jahr veränderte sich dieses Empfinden – nicht zuletzt aufgrund seiner neu entdeckten Leidenschaft: „Ich hatte keine Lust mehr auf die Seminare. Das Leben mit dem Tanzen und den Kontakten, die dadurch kamen, war aktiver und lebendiger.“
Die schönste Nebensache der Welt
Sieben Jahre lang war Martin im Salsa-Fieber. Der Sport wurde nicht nur ein großer Spaßfaktor in seinem Leben, sondern auch zu seiner liebsten Art zu flirten. Die Kommunikation ohne Worte gefällt ihm. Ansonsten beschreibt er seinen Flirt-Stil als geduldig. Und Geduld bewies er auch in Sachen Sex: Mit 32 Jahren erlebte der mittlerweile 47-Jährige schließlich sein erstes Mal. Sein Fazit? „Es war eine sehr, sehr schöne Sache, und meine Neugierde war befriedigt. Aber durch das erste Mal Sex hat sich mein Leben nicht verändert – sondern durch den Prozess, den ich bis dahin durchlaufen habe.“ Er stellt fest, dass das Thema seit es keine Priorität mehr hatte, aufhörte ihm durch den Kopf zu spuken. Sex wird für ihn zur schönsten Nebensache der Welt.
„Durch das erste Mal Sex hat sich mein Leben nicht verändert.“
Mit Geburtstagen und leerem Smalltalk könne er immer noch wenig anfangen, erzählt Martin. Doch ansonsten hat sich seit der Party damals viel verändert. Über die Arbeit lernte er seine jetzige Partnerin kennen, und über das Tanzen kamen sie sich nah. Auch seinen Gefühlen ist er wieder näher. Denn wo früher nur Traurigkeit war, erzeugen Zuneigung und Zärtlichkeit heute Glück in ihm. „Aber es löst sich nicht alles auf deswegen“, ergänzt Martin. Denn trotz Nähe bleibt auch das Gefühl von Einsamkeit bestehen.
Franciska Wiegmann-Stoll ist sich sicher, dass nicht nur Martin Nähe erlernen kann. Theoretisch sei das für jeden möglich. Um etwas zu ändern, brauche man vor allem eines: viel Mut.