„An wen richtet sich die Kunst und wen kann sie erreichen?“
Wenn Kunst protestiert

Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine neue Bewegung in der Kunst. Die Avantgarde. Sie hatte sich als Ziel gesetzt, mit den klassischen Traditionen der Kunst zu brechen und sich bewusst in die Sphären der Politik und Gesellschaft einzumischen. Später bediente sich beispielsweise Keith Haring dieser Philosophie, um unter anderem mit seinem Gemälde „Ignorance = Fear, Silence = Death“ seinem Widerstand auf einem Poster Ausdruck zu verleihen.

Damit brach er gleich zwei Tabus. Er kritisierte die vorherrschende Homophobie und das Totschweigen der AIDS-Epidemie in der Regierung und Gesellschaft, indem er mit offenem Finger auf sie zeigte und auf die Folgen aufmerksam machte. Denn: Bis zum Ende von Reagans Amtszeit sind in den USA bereits mehr als 70 Tausend Menschen an den Folgen der Krankheit gestorben. In Zusammenarbeit mit der Aktivistengruppe „ACT UP Coalition“ kleisterten sie das Poster auf Wänden und Bussen und nutzten so den öffentlichen Raum um die Menschen in ganz New York mit der Problematik zu konfrontieren. Die Kunsttheoretiker*in und Kurator*in Hanna K. Grimmer betonte im Gespräch wiederholt, dass es um die Frage der Rezeption geht, denn: „An wen richtet sich die Kunst und wen kann sie erreichen?“
Institutionen = Entpolitisierung?
Künstler, die die Straße als Ort für ihre Botschaften nutzen, sind keine Neuerscheinung. Denn: Im öffentlichen Raum erreicht man eine breitere Masse an Menschen. Außerdem wurden Kunstinstitutionen, wie Museen, schon lange für ihre elitären Machtstrukturen kritisiert. 2011 bildete sich aus der damaligen „Occupy Wall Street“ Bewegung, welche die unfaire Umverteilung von Wohlstand kritisierte, ein kulturelles Gegenstück heraus. Die „Occupy Museums“ Bewegung. Eine ihrer ersten Aktionen bestand darin, sich vor dem Museum of Modern Art in New York zu versammeln und auf die Korruption und ungerechte kulturelle Machtverteilung in Kulturinstitutionen aufmerksam zu machen. Dafür verkündeten sie ein Manifest, das vom Künstler Noah Fischer geschrieben wurde. Sie forderten unter anderem die Senkung oder Streichung von Eintrittsgebühren, um den Zugang für alle zu erleichtern und lehnten die Behandlung von Kunst als reine Kapitalanlage ab.
In einem früheren Beispiel deckte das Künstlerkollektiv CADA, Abkürzung für Colectivo Acciones de Arte, 1979 den Eingang zum Museo Nacional de Bellas Artes in Santiago de Chile ab. Der Name der Aktion war zu Deutsch: Umkehrung der Szene. Ihre Aussage: Kunst existiert außerhalb dieser Institution. CADA sowie die Occupy Museums Bewegung nutzten somit die Räume der künstlerischen Elite und kehrten sie gegen sie. Dennoch, erzählt mir Grimmer, könne Kunst ihre Wirksamkeit auch im Ausstellungs-Kontext entfalten. Sie erklärte, dass zur Zeit der Terror-Diktatur Pinochets Galerien zu Schutzräumen für Kunstschaffende wurden. Innerhalb dieser konnten sie ihre Kritik äußern. Auch wenn verschlüsselt. Denn darin liegt der entscheidende Unterschied: Das Kollektiv CADA übte ihre Aktionen unter weitaus höherem Risiko aus. Wahrscheinlich war ihre Botschaft auch deshalb nicht so eindeutig formuliert wie später das Manifest der Occupy Museums Bewegung.

Der richtige Schlüssel für das richtige Schloss
Denn Verschlüsselung und Mehrdeutigkeit sind nützliche Instrumente der Kunst. Es kann im Falle von Zensur gezielt eingesetzt werden, um Kritik und Widerstand zu verschleiern. Jedoch wird auch unter demokratischen Systemen mit ihr gearbeitet. Mehrdeutigkeit sei nämlich das natürliche Streben der Kunstschaffenden, schreibt der Autor Nato Thompson in seinem Buch „Seeing Power – Art And Activism In The 21st Century”. Doris Salcedo macht sich diese Strategie exemplarisch zu eigen, um die Rezipienten zum Nachdenken zu zwingen. In ihrer Installation „Shibboleth“ zieht sich ein seismischer Riss durch den Boden der Turbinenhalle der Tate Gallery of Modern Art in London. Eine physische Grenzlinie, die sich nur mit dem passenden „Schlüssel“ enträtseln lässt. Wer nicht weiß, worauf sie sich bezieht, bleibt außen vor. Auch das ist eine Form von Ausschluss und könnte damit Teil ihrer Kritik sein. Salcedo spielte damit nämlich auf die Erfahrungen von Menschen mit Fluchtgeschichte an. Die Erfahrung damit, entweder während eines Grenzüberganges abgewiesen oder nach der Überschreitung ausgegrenzt zu werden. Der Riss repräsentiert für sie die Grenze, zu der parallel die Geschichte der Modernität und die ihres kolonialen Erbes verlaufen.
Im Gegensatz dazu steht der berühmte Straßenkünstler Banksy. Seine Werke werden von Kritikern oft als naiv und plakativ beurteilt. Sie lassen wenig Raum für Interpretation übrig. Sein Graffiti “Flower Thrower” das an einem Gebäude in der Ash Salon Straße, in Bethlehem, im Westjordanland zu sehen ist, zeigt einen vermummten Mann, welcher dabei ist einen Blumenstrauß anstelle eines Molotow-Cocktails zu werfen. Die Aussage scheint eindeutig: Blumen und Frieden statt Waffen und Krieg. Um das zu verstehen, braucht man kein besonderes Vorwissen oder den jeweiligen Kontext des Ortes, an dem es entstand. Auch die iranische Künstlerin Ahoo Maher, sonst für ihre vielschichtigen Arbeiten bekannt, hat im Zuge der Proteste im Iran ein Straßengemälde geschaffen, das unmissverständlich spricht: Es zeigt eine Frau mit einem abgeschnittenen Haarzopf, ein Symbol des Widerstands der Frauen im Iran, und die Worte „Woman, Life, Freedom“. Eine bekannte Parole der Bewegung, denn in diesem Fall soll die Eindeutigkeit als direkte Solidaritätsbekundung wirken.
Demokratisierung oder Illusion?
Die physische Präsenz dieser Werke wird wohl für die meisten Menschen unerreichbar bleiben. Könnte man also meinen, das Internet hätte uns der Demokratisierung der Kunst näher gebracht? Wie beispielweise im Falle der Performance "Un violador en tu Camino.", zu Deutsch: „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg.” des feministischen Kollektivs "Las Tesis" aus Chile. In Partyoutfits gekleidet, mit einem einprägsamen Rhythmus und maskierten Gesichtern richten sie ihren Zeigefinger auf das Patriarchat und machen eine klare Schuldzuweisung. Die Choreografie ging viral und feministische Bewegungen weltweit machte sie sich zu Nutze.
In einem anderen Beispiel nutzte die pro-demokratische Protestbewegung in Hongkong ein bekanntes Symbol der Internetkultur "Pepe the Frog", um ihrem Kampf gegen die Unterdrückung der chinesischen Regierung ein Gesicht zu geben. Das bekannte Meme wurde 2005 vom Comic-Zeichner Matt Fury ins Leben gerufen und zierte 2019, während der Proteste, die sogenannten „Lennon Walls” in Hong Kong. Wände in der U-Bahn, die Menschen mit Stickern und Post-Its beklebten, in denen sie ihre Solidarität mit den Protesten kundtaten. In Europa und den USA war Pepe eigentlich das Maskottchen der Alt-Right Bewegung gewesen. Diese nutzten das Meme Format, um rechtsideologisches und antidemokratisches Gedankengut zu verbreiten. Die westliche Presse wurden auf diese Neuinterpretation des bekannten Memes aufmerksam und verbreiteten sie in den Medien. Digitale Räume wie Social Media scheinen also neue Zugänge zur Kunst zu eröffnen. Zugänge, die nicht mehr an Orte, sondern an Memes oder virale Dynamiken gebunden sind. Doch auch hier bleibt der Schlüssel entscheidend. Um eine politische Botschaft zu entschlüsseln, braucht es weiterhin Kontext-Wissen, kulturelle Codes oder zumindest ein Gespür für deren Brüche.
Jedoch, argumentiert Grimmer im Interview, sei dadurch die gewünschte Demokratisierung der Kunst nur scheinbar gegeben. Denn schwer durchschaubare Algorithmen fungieren nun als Kuratoren. Wie bei Salcedos „Shibboleth“ bildet sich hier eine unsichtbare Grenze ab, ein digitaler Riss, der Inhalte selektiert und verbirgt, sodass wir kaum wissen, was uns entgeht. Auch gibt es keine Variablen, mit welcher man die Wirksamkeit von Protestkunst messen könnte. Ein Friedrich Merz, so Grimmer pointiert, wird keine andere Geflüchteten-Politik machen, nur weil er ein künstlerisches Werk gesehen hat, das dazu aufruft. Doch genau darin liege auch die Kraft der Kunst: Sie vermag Räume zu öffnen, in denen andere Perspektiven verhandelt werden und Gespräche möglich werden zwischen Lagern, die sich längst unversöhnlich gegenüberstehen.