„Meine Eltern wollten immer, dass ich so früh wie möglich eine Frau kennenlerne, diese heirate und mit ihr Kinder bekomme.“
Zwischen zwei Welten
2015 stand im Zeichen der Flüchtlingsbewegung. Millionen Syrer ließen ihre Familien zurück in der Heimat und machten sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung Europa. Ihre Hoffnung: Schutz und Sicherheit finden. Doch bei vielen Schutzsuchenden machte sich auch schnell Ernüchterung breit, denn die Konfrontation mit der westlichen Kultur offenbarte sich für viele als große Herausforderung. Die Deutsche Gesellschaft lebt anders, denkt anders, basiert auf ganz anderen Werten und Normen als die Syrer es aus ihrem Heimatland gewohnt waren. Bisher war es immer die Familie, die alles regelte und die ihnen vorgab, was sie zu tun und zu lassen hatten. Nun waren sie auf sich alleine gestellt. Alles bekam eine neue Bedeutung und die Dinge sollten sich verändern.
Andere Werte
In Syrien steht die Familie kulturell bedingt an erster Stelle – und das meist noch über den eigenen, persönlichen Interessen. Die Liebe und der Respekt der Familie sind grundlegende Bestandteile des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Regeln, die auf jahrhundertealten Bräuchen und Traditionen beruhen, bestimmen die Welt der persönlichen Beziehungen und sind sehr eng miteinander verknüpft. Von der Kindheit bis zur Heirat ist das Leben geprägt von der Bevormundung durch die Eltern und die gesellschaftlichen Erwartungen. Zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen hat für viele Syrer daher oberste Priorität. Doch auch hierbei gilt: Alle Entscheidungen werden von den Eltern getroffen. Die eigenen Träume und Wünsche spielen kaum eine Rolle. Besonders Frauen und Mädchen sind in ihrer Freiheit eingeschränkt. Sie müssen in allem dem Familienvater gehorchen, aber auch dem Bruder und den Cousins Folgsamkeit leisten.
Im Gegensatz dazu steht die europäische Gesellschaft. Sie hat sich mit dem Beginn der Aufklärung immer mehr von den einstig prägenden, stark religiösen und traditionalistischen Einflüssen gelöst. Mit ihrer Gesetzgebung und der Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte, hat die europäische Gesellschaft die Werte der individuellen Freiheit und der Gleichwürdigkeit aller Menschen nach und nach in den Fokus des gesellschaftlichen Zusammenlebens gerückt. Jeder kann heute in Europa so leben und sich frei entwickeln, wie es ihm entspricht – solange er dabei die Grenzen des anderen respektiert. In dieser Entwicklung spiegelt sich die Art und Weise wider, wie Ehe- und Familienleben in der europäischen Kultur überwiegend gedacht und gelebt werden.
Doch wie gehen nun die zahlreichen Syrer, die aus ihrem Heimatland geflüchtet und nach Deutschland gekommen sind, mit dem Erleben dieser Diskrepanz um? Führt der wahrgenommene Konflikt zwischen der eigenen Sozialisation in der syrischen Gesellschaft und der völlig gegensätzlichen Denk- und Lebensweise in der westlichen Kultur zu einer Veränderung?
Drei Syrer berichten von ihren persönlichen Erfahrungen in dieser Situation und den Folgen, die sich daraus hinsichtlich ihres Familienlebens und dem Kontakt nach Hause seit ihrem Aufenthalt ergeben haben:
Abderahman ist 27 Jahre alt und schreibt gerade seine Bachelorthesis, um sein BWL-Studium in München abzuschließen. Rückblickend auf seine familiäre Situation in seinem Heimatland beschreibt er, dass für ihn die Familienverhältnisse zu Hause schon immer sehr eng gestrickt waren. Sein Vater war in jede Entscheidung involviert. Auch finanziell war er von ihm abhängig. Er will sein eigenes Leben führen. Selbstbewusst und bestimmt äußert der junge Syrer, dass seine Eltern seinen „aktuellen Lebensstil“, der geprägt ist von „wilden Studentenpartys“ und „Road Trips mit Freunden“, niemals akzeptieren würden. Deshalb hat er Geheimnisse vor seiner Familie in Syrien – und die behält er auch für sich. Seine Eltern wollten immer, dass er so früh wie möglich eine Frau kennenlernt, diese heiratet und Kinder bekommt.
Auch der gleichaltrige Student Nasim hat diese Erfahrung in seinem Heimatland Syrien gemacht und schildert, dass sich in Folge des Bürgerkrieges das Familienleben in Syrien seit einigen Jahren vielerorts verändert hat. „Es gibt keine Mittelschicht mehr in Syrien, sondern nur noch viele arme und ein paar reiche Familien“, meint er. Auch seine Familie sei in Syrien heute von Armut betroffen, „kämpfe dort jeden Tag ums Überleben“. Er senkt seinen Blick. Doch dann hält er inne und sein Gesichtsausdruck verändert sich. Er wirkt befreit. Nasim erzählt, wie wichtig ihm es trotz dieser Umstände ist, dass er jetzt die Verantwortung über sein Leben selbst übernehmen kann. Für ihn hat eine neue Zeit begonnen. Die Macht und den Einfluss seiner Eltern in seinem Leben kann er nicht länger akzeptieren, auch wenn er sich weiterhin mit ihr verbunden fühlt. Kontakt hat er immer noch zu seinen Eltern in Damaskus, aber nicht mehr so häufig wie früher.
Mado, der im Alter von 26 Jahren in Stuttgart eine Ausbildung zum Verkäufer angefangen hat, kann sich ebenfalls noch sehr gut an die patriarchale Familienwelt in seiner Heimat erinnern. Er beschreibt die Enge und den Druck, den er sehr oft zu Hause seitens des Vaters erlebt hat. Er hat sich nie frei in seinen Entscheidungen gefühlt. Dennoch, so beschreibt Mado, war für ihn da auch immer ein Gefühl, dass seine Familie sich um ihn sorgt und alle immer für ihn da waren. Das Zusammenleben mit der Familie hat ihm zufolge immer auch ein „Gefühl von Sicherheit und Nähe“ gegeben. Bis heute ist das auch ein Aspekt, den er in deutschen Familien vermisst. Deutsche Familien erlebt er „eher kalt, nicht so herzlich und ohne Seele“, wie er es nennt. Dann erklärt Mado, wie der Spracherwerb im Deutschen ihm schließlich den entscheidenden Schlüssel für den Neuanfang in Deutschland in die Hand gegeben hat: Durch das bessere Verständnis der deutschen Sprache lernte er neue Freunde kennen, schloss sich einem Fußballverein an und entschied sich eine Ausbildung zu absolvieren. Mado erzählt auch, dass er heute viel seltener mit seiner Familie telefoniert als früher. Heute will er sein Leben nicht mehr ganz mit seiner Familie teilen. Er hat sich verändert und seine Eltern würden seinen heutigen Lebensstil nicht immer verstehen. Er meint, er will nicht, dass sich seine Eltern unbegründet Sorgen machen, weil er nicht mehr streng muslimisch lebt. Seine Eltern verstünden eben das Leben hier nicht, sagt er.
Arabische Gesellschaften sind traditionell und kulturell bedingt eher streng konservativ und patriarchal geprägt. Gesellschaftlich werden hier deshalb Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Geschlechtern konstruiert, deren Folgen für die Betroffenen ungerecht, einengend und manchmal auch grausam sein können. Vor allem Frauen müssen sich unterordnen und haben kaum eine Chance aus diesem System auszubrechen und ihre eigenen Träume zu leben.
Die europäische Kultur wiederum steht hier auf den ersten Blick besonders für die gelebten Werte der Freiheit, der Individualität des Einzelnen und das friedvolle Miteinander. Europa wird von syrischen Migranten jedoch auch als kalt, hart, kapitalistisch und als zu sehr rational orientiert erlebt. Gefühle und Emotionen spielen hier im Vergleich eine eher geringere Rolle – auch im familiären Gefüge. Dieser „Blick von außen“ könnte der europäischen Gesellschaft als Anlass zur Selbstreflexion dienen.
Denn der Mensch benötigt beides: Die Freiheit, sich seinem eigenen Menschsein entsprechend entwickeln zu können. Aber auch das Eingebettetsein in eine Familie, die ihn trägt und Geborgenheit bietet.