Mikrotrends 8 Minuten

Mikrotrends - Große Wirkung

Mädchen im Klamotten-Chaos
Zwischen Kleiderbergen und Gemeinschaftsgefühl: Jugendliche und Mikrotrends. | Quelle: Celine Broll
21. Mai 2025

Mikrotrends, Fast Fashion & Social Media: Warum junge Menschen kurzlebigen Modetrends folgen und das auch seine Berechtigung hat.

14. Juli 2024: „I think the apple’s rotten right to the core“, tönt es mir schon zum zehnten Mal am heutigen Tag entgegen. Dabei schaue ich abermals zwei Mädchen dabei zu, wie sie den viralen „Apple“-Tanz aus Charli XCXs neuen Album „brat“ performen. „Eine Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und ein weißes Trägertop ohne BH“ - so beschreibt die Sängerin selbst die „Brat Girl Summer“-Essentials. Aussehen wie nach einem langen Clubabend? Easy, denke ich mir. Verschmierter Eyeliner, zerzaustes Haar, Jogginghose - der Trend ist alles, was den „Clean-Girl“-Fans Schnappatmung verpasst. Statt weiblichem Perfektionismus geht es in der „Brat“-Ästhetik gezielt um Unvollkommenheit, Authentizität und Lässigkeit.

Ich klicke auf den Hashtag #bratsummer und staune nicht schlecht: Rund eine Million TikTok-Postings haben sich bereits darunter angesammelt. Der „Brat Summer“ hat eine eigene Community - und obwohl er meinem persönlichen Style nicht entspricht, macht er auch mit mir etwas. Denn der Trend steht für Selbstbewusstsein und Individualität – Werte, die junge Mädchen unbedingt lernen und leben sollten. So verfolgt mich der Trend, bis er nach ein paar Wochen wieder verschwindet - genau wie der „Cowboy Core“ vor ihm und der „Demure“-Trend nach ihm. Sie haben eines gemeinsam: Es handelt sich um sogenannte Mikrotrends.

Was sind eigentlich Mikrotrends?

Normale Fashion-Trends kennen wir alle: Neue Styles erobern die Laufstege der Fashion-Weeks, tauchen in Magazinen, Schaufenstern und unseren Social-Media-Feeds auf – und plötzlich trägt sie jeder. Kaum ist eine Saison rum, ist der Hype auch schon wieder vorbei – schwups, der Trend ist „out“. Doch was sind dann Mikrotrends? Es handelt sich um Trends mit einem ultrakurzen Ablaufdatum. Meist sind die Sachen nur für einen Monat oder gar wenige Wochen „in“, bevor sie vom nächsten Mikrotrend abgelöst werden.

Und wo ist jetzt der Haken an der Sache? Tja, die so harmlos klingenden Mikrotrends befeuern Fast Fashion. Diese wird in Niedriglohnländern wie Indien oder Bangladesch unter prekären Arbeitsbedingungen produziert. „Niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, kein Arbeitsschutz und kaum gewerkschaftliche Vertretung" -  das sind einige der Missstände, die mir Carmen Maiwald, freie Journalistin und Expertin für Mode und Greenwashing, schreibt.

„Wir vergessen, durch wie viele Hände ein Kleidungsstück geht, bis es bei uns im Kleiderschrank hängt, und wie viel Arbeit darin steckt. Wenn wir uns das vor Augen führen, dann begreifen wir, dass die Mode nicht so günstig ist, wie wir sie einkaufen. Den Preis zahlen nur andere - die Menschen, die für die Mode ausgebeutet werden“, sagt Maiwald.

Fast Fashion, das bezeichnet eine „Design-, Herstellungs- und Marketingmethode, die sich auf die schnelle Produktion großer Mengen von Kleidung konzentriert“.

Billigmode“, so wird Fast Fashion auch genannt, denn für die Herstellung der Kleidung werden minderwertige Materialien verwendet, um die Klamotten so günstig wie möglich zu verkaufen. 

Quelle: Umweltmission

Ebenso düster wird es, wenn man sich die Umweltkonsequenzen von Fast Fashion anschaut: Laut Europäischen Parlament verursacht die Textileinfärbung rund 20 Prozent der weltweiten Wasserverschmutzung. Und das bei einer globalen Textilfaserproduktion, die sich nach Europäischer Umweltagentur bis 2030 auf 145 Millionen Tonnen verdoppeln dürfte. Das große Problem? Überproduktion. Die Modeindustrie produziert mehr Kleidung, als konsumiert werden kann. Hierzu tragen die Mikrotrends maßgeblich bei. „Während große Modehäuser früher typischerweise vier Kollektionen pro Jahr veröffentlichten, bringen Fast Fashion Giganten wie H&M und Zara nun schon zwölf bis zwanzig Kollektionen pro Jahr heraus, welche viel mikrotrendorientierter sind“, so lautet es in einem Artikel des Jugend-Onlinemagazins LizzyNet. Bedeutet: Fast Fashion orientiert sich mittlerweile an Mikrotrends wie dem „Brat Summer“, der wiederum zum Kauf von billiger Mode animiert. Denn wenn ein Trend nur drei Wochen „in“ ist, wieso sollte man dann viel Geld dafür ausgeben?

Weißes T-Shirt auf dem Boden
Für die Herstellung eines einzigen Baumwoll-T-Shirts werden rund 2.700 Liter Süßwasser verbraucht – so viel, wie ein Mensch in zweieinhalb Jahren trinkt, berichtet das Europäische Parlament.
Quelle: Taya Wieland

„Wir vergessen, durch wie viele Hände ein Kleidungsstück geht, bis es bei uns im Kleiderschrank hängt, und wie viel Arbeit darin steckt. Wenn wir uns das vor Augen führen, dann begreifen wir, dass die Mode nicht so günstig ist, wie wir sie einkaufen. Den Preis zahlen nur andere - die Menschen, die für die Mode ausgebeutet werden“.

Carmen Maiwald

Dass dieser Ansatz problematisch ist, haben uns die Zahlen und Fakten über Fast Fashion mehr als deutlich gezeigt. Und sind wir mal ehrlich – wirklich neu waren sie für den Großteil von uns nicht. Mir stellt sich da die Frage: Was macht kurzlebige Trends so reizvoll, dass viele Jugendliche trotz besseren Wissens ihre Prinzipien über Bord werfen? Kann es gute Gründe geben, die das Dasein von Mikrotrends rechtfertigen? 

Zwischen FOMO und Zugehörigkeit

Stellt man sich die Frage, wer im Zuge der Mikrotrends Fast Fashion konsumiert, so fällt die Antwort laut einer Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov auf Jugendliche im Alter von 18 bis 24 Jahren, die mit 63 Prozent am häufigsten „Fast Fashionʺ-Marken bevorzugen. Hinzu kommt, dass Jugendliche als TikTok-Zielgruppe einfach zu beeinflussen sind. So dürften viele das Gefühl von FOMO, der „Fear of missing out“, kennen. Etwa, wenn man nicht auf einer Party dabei ist - da bekommt man schon mal Angst, etwas Cooles zu verpassen. So erlebe ich es auch auf TikTok: ein neuer Trend, alle Freunde machen mit, zack, FOMO setzt ein. Die Lösung? Mit billigen Käufen schnell dazugehören. Aber sollte sich da nicht das Gewissen einschalten? Hier kommt die kognitive Dissonanz ins Spiel.

Kognitive Dissonanz: ein psychologisches Phänomen, das als „unangenehmer Gemütszustand, bei dem unser Verhalten mit unseren Werten nicht vereinbar ist“ definiert wird. 

Kognitiv betrifft das Denken, während Dissonanz mit dem Wort „Uneinigkeit” übersetzt werden kann.

Quelle: Utopia

Heißt: Wir kommen in einen inneren Widerspruch, wenn wir uns zwar einerseits im Klaren darüber sind, wie schlecht Fast Fashion für die Umwelt ist, wir sie andererseits aber dennoch kaufen. Um unser Gewissen zu beruhigen, nehmen wir eine Dissonanzreduktion vor: „Der eine Kauf wird schon nicht schlimm sein“ oder „Meine Freunde haben doch auch vor kurzem bei Shein bestellt“ sind nur ein paar der Sätze, die die Dissonanz aushebeln sollen.

Drei Lederjacken an einer Kleiderstange
Drei Jacken, ein Stilgefühl: Mikrotrends schaffen Gemeinschaft – sie verbinden Menschen, die sich in der gleichen Ästhetik zu Hause fühlen.
Quelle: Taya Wieland

Bleiben wir auf der psychologischen Ebene, so zeigen sich weitere Gründe, die die Teilnahme an Mikrotrends ausmachen. Nach dem Psychologen Hannes-Vincent Krause streben wir Menschen nach Anerkennung - genau das ermöglichen die Mikrotrends. Nehmen wir das Beispiel „Cowboy Core“: Der Look rund um Cowboyboots hat eine Community hervorgebracht, in der ein Gefühl sozialer Verbundenheit entstand. Eben diese positiven Emotionen brauchen Jugendliche in ihrem Leben. Erinnern wir uns alle mal zurück an unsere Pubertät und Jugend: Noch nie war eine Zeit so aufregend und verwirrend zugleich, weil sich so vieles auf einmal verändert hat. Noch nie war es deshalb so wichtig, eine Konstante zu finden und Zustimmung zu erfahren.

Auch Krause sieht das als Vorteil der Mikrotrends und führt aus: „Wenn ich merke: Da ist eine Gruppe, die befolgt einen bestimmten Trend und ich fühle mich dem zugehörig und in meinem Offline-Kontext gibt es das gar nicht, kann das für die Suche nach Identität, nach Zugehörigkeit ein Benefit sein“. 

Mikrotrends verkörpern Persönlichkeit. Das Schöne daran: Jede Person hat die Freiheit, sich eine ganz eigene Ästhetik zu suchen, in der sie sich wohlfühlt. 

How-to: Nachhaltige Kleidung

Kann man Mikrotrends auch auf eine positive Art ausleben? Dass Fast Fashion ein No-Go ist, steht fest. Auch wenn der nachhaltige Wandel in erster Linie Aufgabe der Politik ist, können wir selbst durch bewussteren Konsum etwas Verantwortung übernehmen. Denn, wie es Maiwald sagt: ,,Mode kann Spaß machen, auch ohne etwas Neues zu kaufen''.

Zum einen kann man kreativ werden mit dem, was man schon hat: Upcycling ist das Motto. Zum anderen bietet Second Hand neue Funde mit Geschichte. Oder wie wär’s mit Kleidertausch unter Freunden? Nachhaltig und stärkt das Gruppengefühl.

Ob Mikrotrends aus nachhaltiger Sicht problematisch sind, können wir also ein Stück weit mitbestimmen: „Ein Mikrotrend, der darauf basiert, dass man Kleidung trägt, die bereits im Kleiderschrank hängt, kann vollkommen unproblematisch sein“, so Maiwald.

T-Shirt wird upgecycelt
Aus Alt mach Neu - durch Färben, Nähen oder Schneidern kann ein altes T-Shirt im Handumdrehen aufgewertet werden.
Quelle: Taya Wieland

Fast Fashion, kognitive Dissonanz, Identität – mir schwirrt der Kopf. Dass ein Thema so facettenreich sein könnte, hätte ich zu Beginn meiner Recherche nicht gedacht. Für mich stand fest, dass Mikrotrends aus Sicht der Nachhaltigkeit verteufelt gehören. Allerdings habe ich jetzt realisiert, was ich vorher nicht wahrhaben wollte: Im Kern haben sie durchaus positive Effekte. 

Mein 13-jähriges Ich hätte sich über die Chance gefreut, innerhalb einer eigenen Community verschiedene Styles und Ästhetiken ausprobieren zu können. Denn ich wollte nichts anderes, als dazuzugehören. Mir hätte das Lebensgefühl eines „Brat Summer“ definitiv gutgetan: sich selbst nicht zu ernst nehmen, Spaß haben und auf diesem Weg das Chaos namens Erwachsenwerden umarmen. Mein 20-jähriges Ich kann sagen, dass sie das mittlerweile geschafft hat. Ich habe mich selbst gefunden und gelernt, die Jugendzeit zu genießen. Allerdings war es ein langer Weg bis dahin - und ich wünsche mir, dass andere Jugendliche das früher erkennen. Einzigartig sind wir nämlich dadurch, dass wir wir sind. Und ganz gleich, ob wir Mikrotrends brauchen, um uns selbst zu finden - solange wir uns der ökologischen Auswirkungen unseres Konsumverhaltens bewusst sind und danach handeln, kommt der Trend Identität nie aus der Mode.