Heute sitze ich im Garten. Es ist August. Die Hitze zeichnet Schweißtropfen auf meiner Haut. Immer, wenn die Sonne scheint, stehe ich gerne früh auf und verbringe den Tag im Freien. Heute bin ich glücklich. Das war ich seit Langem nicht mehr. Nach zwei Studienabbrüchen und einer abgebrochenen Berufsausbildung befinde ich mich noch immer in der akademischen Welt. Ich habe nicht aufgegeben und studiere an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Ich bin 27 Jahre alt. Es ist nicht einfach. Es ist ein enormer Druck. Ziegelsteine liegen auf meinen Schultern. Schaffe ich dieses Studium? Bin ich dieses Mal gut genug?
Laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beläuft sich die Studienabbruchquote auf 35 Prozent an Universitäten und 20 Prozent an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. In der Publikationsreihe DZHW-Brief zeigen Ergebnisse, dass 28 Prozent der Bachelorstudierenden, die ihr Studium 2016 und 2017 begonnen haben, ihr Studium ohne Abschluss beendeten. Auch in meinem Freundeskreis ist ein Studienabbruch keine Seltenheit. Die meisten jedoch haben schnell das gefunden, mit dem sie sich identifizieren können. Bei mir hat das eine Weile gedauert. Im Sizilianischen gibt es den Ausdruck „gira vuota è furria“, was so viel bedeutet wie „sich planlos im Kreise drehen“. Ich habe mich lange ohne Plan im Kreis gedreht. Heute bin ich mir in meiner Berufswahl sicher. Druck mache ich mir trotzdem. Warum fiel es mir so schwer, das richtige Studium zu finden? Warum brechen überhaupt so viele Studierende ihr Studium ab? Neugierig suche ich nach Antworten.
Über Zoom, der globalen, digitalen Sprechblase, organisiere ich ein Interview mit Dr. Ulrich Heublein, Projektleiter in der Abteilung "Bildungsverläufe und Beschäftigung" des DZHW. Heublein trifft für seine Forschung häufig auf junge Menschen, die mit Studienabbrüchen zu kämpfen hatten. Jetzt sitze ich ihm gegenüber, zumindest im übertragenen Sinne. Ich stelle mich bei Herrn Heublein vor. In Sekunden verpacke ich die vergangenen neun Jahren und bezeichne mich immer wieder als „Studienabbrecherin“. Heublein korrigiert. Da ich das Hochschulsystem nie ganz verlassen hätte, würde ich laut Forschung zu den Studienfachwechselnden zählen. Darüber habe ich mir selbst nie Gedanken gemacht. Studienabbruch oder Studienfachwechsel, für mich galt das Ergebnis: Man fängt immer bei null an. Heublein erklärt, der Hauptgrund für einen Studienabbruch seien die Leistungen. Für fast ein Drittel der Studierenden sei dies der entscheidende Faktor. Als zweiten Grund nennt er die Motivation. Viele würden sich nicht in das geeignete Studienfach einschreiben oder gar nicht wissen, was für sie ein geeignetes Studienfach ist. Zudem stelle man einen gewachsenen Anteil von Studierenden fest, die während des Studiums erkennen würden, dass diese gesamte akademische Welt nicht zu ihnen passe.
Vor Beginn meines ersten Studiums suchte ich nicht nach geeigneten Studienfächern. Ich wollte nicht studieren. Ich wusste nicht, was ich wollte. „Ich könne nicht ewig „nur“ jobben“, hatte man mir gesagt. Mein Tourismusstudium brach ich 2017 ab. Danach war ich mir sicher: eine Berufsausbildung würde besser passen. Nach einem Aufenthalt in Neuseeland begann ich die Ausbildung im Groß- und Außenhandel. Ich kam schnell an meine Grenzen. Mir fehlten dabei nicht die Kompetenzen. Der Beruf passte einfach nicht.
Eine Erinnerung: Es war ein heißer Frühling im Mai 2019. Ich habe damals nur noch existiert. Meine Ausbildung war ein Ringkampf zwischen Pflichtgefühlen und Lebensfragen. Ich verzweifelte an mir selbst. Schon wieder abbrechen? Ich fühlte mich jämmerlich. Eine Woche lang dauerte es. Ein großer Raum, ein Bett, in das ich mich verzog. Ich stand nicht mehr auf. Ich aß nicht, ich trank kaum, ich existierte nur. Meine Mutter verzweifelte. Ich erinnere mich an eine atemlose Nacht. Irgendwann – eine beängstigende Stille in diesem Raum –wachte ich schlagartig auf. Das Gefühl, als würde mir jemand die Kehle zudrücken. Der schnappartige Versuch Luft zu holen. Einen Moment lang dachte ich: das war`s jetzt. Ich hatte keine Kraft mehr. Es musste aufhören. Es dauerte Stunden bis ich wieder normal atmen konnte. Am nächsten Tag konnte ich aufstehen. Mein Vater suchte das Gespräch und ich versuchte die chaosartigen Gefühle zu beschreiben. „Du bist nicht depressiv, du bist einfach nur lost“, entgegnete er mir zweifellos. Er war sich sicher. Ich war mir sicher und schrieb meine Kündigung.
Heute stelle ich mir die Frage, warum es für mich so schwierig gewesen war, sowohl in der akademischen als auch beruflichen Welt klarzukommen. Bin ich das Problem? Um die Gründe für mein Verhalten aus psychologischer Perspektive aus zu betrachten, hake ich bei einer Freundin nach. Yasmin Eichhorn ist Psychologin und arbeitet in der Reha-Klinik in Bad Rappenau bei Heilbronn. Zunächst einmal betont sie, dass man das psychologische Verhalten nicht innerhalb einer Stunde analysieren könne und eine Therapie über einen längeren Zeitraum erforderlich wäre. Eichhorn verweist jedoch auf das wissenschaftlich begründete Modell der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD). Sie erklärt, dass es im Leben immer Situationen gäbe, in denen wir hin- und hergerissen seien. Normalerweise finde man aus Konfliktsituationen heraus, doch es gäbe auch Menschen, die in der Vergangenheit nie Strategien entwickelten, um gewisse Formen von Konflikten zu bewältigen. „Man unterscheidet da zwischen acht psychodynamische Konflikttypen. Zum Beispiel gibt es den Konflikt „Unterwerfung versus Kontrolle“ in dem sich zwei Extreme beschreiben lassen. Im passiven Modus ordnen wir uns unter, folgen Regel und Pflichten ohne Widerstand. Im aktiven Modus wiederum lehnen wir Kontrolle ab und stellen eigene Interessen in den Vordergrund“, erklärt sie. Ich nicke. Ich verstehe. Psychodynamische Gründe können sicherlich bei mir eine Rolle gespielt haben. Heublein bestätigt ebenfalls, dass die steilste Entwicklungskurve im Studienausstieg in psychischen Gründen zu sehen sei. Die Zahl liege hier bei fast 11 Prozent.
März 2024: Die Prüfungsphase war vorüber. Nach zwei Wochen Semesterferien begann das neue Semester. Statt Semesterferien arbeitete ich in Vollzeit. Ich erholte mich nicht. Tausend Termine tauchten im Kalender auf. Sie sprangen wie Pop-up-Nachrichten. Die Ziegelsteine auf meinen Schultern erhöhten ihr Gewicht. Schaffe ich es nächsten Monat meine Miete zu zahlen? Wie kaufe ich ein, wenn auf dem Bankkonto nicht mehr als 10 Euro verbleiben? Meine Eltern unterstützen mich so gut, wie es geht. Mit 27 Jahren möchte ich für die Haupteinnahmen aber selbst sorgen können. Der Druck, das irgendwie hinzubekommen, ist ein fieser Begleiter. Erwerbstätigkeit und das Erfüllen der Studienanforderungen zu managen sieht Heublein als eine weitere Ursache, warum das Studium abgebrochen wird. „Wir wissen, ab zwölf Wochenstunden Nebenerwerb steigt die Abbruchgefahr exponentiell. Studierende kommen häufig erst zu einem späteren Studienzeitpunkt in eine Situation, wo sich plötzlich der Berg, der nicht bewältigten Studienanforderungen als zu groß herausstellt“, erklärt er.
Ich erinnere mich genau an jene Abende in Ulm, als ich während meines Studiums an der Rezeption eines Hotels arbeitete. Bis zu zwanzig Stunden pro Woche stand ich dort, hinter dem Empfangstresen. Oft, wenn ich keinen Gästen mehr die schwarzen Zimmerkarten überreichte, packte ich meinen Laptop aus und setzte mich auf den Boden hinter den Tresen. So lernte ich – unkonzentriert. Eines Abends wurde ich ertappt. Ein freundlicher älterer Herr bezeichnete mich als sehr fleißig. Ich selbst hielt mich für strohdumm, weil ich die Laplace-Formel nicht verstand. Weniger oder gar nicht Arbeiten? Niemals, ich war zu stolz und ich wollte meinen Eltern nicht zur Last fallen. Auf BaföG hatte ich nie Anspruch und ein Studienkredit schien mir zu riskant. Was daraus resultierte: viel Arbeit und wenig Zeit meine Defizite in Mathe und Physik aufzuholen. Das DZHW hat festgestellt, dass die Abbruchquote im universitären Bachelorstudium in Mathematik und Naturwissenschaften mit 50% überdurchschnittlich ausfällt. „Es ist ein Skandal, dass in unserem Bildungssystem darauf verzichtet wird, die schulischen Vorleistungen mit den Studienanforderungen des Studienbeginns abzustimmen“, sagt Heublein. Er sei sich dabei sicher, dass es häufig zu problematischen Defiziten komme, die nichts mit den Fähigkeiten von jungen Leuten zu tun habe, sondern dass das, worauf Schule vorbereite und womit Hochschule beginne, nicht harmonisieren würde.
In Ulm – mein heutiger Verstand spricht - hätte ich meine Prioritäten sicher anders setzen müssen. Denn die Studieninhalte waren für mich zu anspruchsvoll, um nur in „Teilzeit“ zu studieren. Meine Defizite hätte ich in Vorkursen, Tutorien oder anderen Hilfsangeboten aufholen können. Doch in den ersten entscheidenden Semestern kümmerte ich mich nicht darum. Vielleicht war ich unmotiviert, vielleicht auch verunsichert. Heublein sieht das Problem von Hilfsangeboten darin, dass Studierende wissen müssen, welches Hilfsangebot für sie das Richtige ist und erschließen, wo die genauen Defizite liegen. Es würden meist nur diejenigen Hilfsangebote nutzen, die es drauf haben und nur zur Absicherung die Kurse besuchen. Im dritten Semester entschied ich mich für Nachhilfe in Mathe und Physik. Zu spät.
Studienabbruch ist komplex. Lehrkultur, Studienbedingungen, Finanzierungssituation, Lebensbedingungen können alles Einflussfaktoren sein, die am Ende dazu führen, ob Studierende weitermachen oder abbrechen. Warum, wieso und weshalb man Entscheidungen trifft, liegt oft im eigenen Studienverhalten und vermutlich auch in gewohnten Verhaltensweisen. Es befinden sich jedoch auch Lücken im Bildungssystem, die dafür verantwortlich sind, dass fast ein Drittel der Bachelorstudierenden ihr Studium abbrechen. Heublein ist sich sicher: „Das Erste, was wir tun sollten, ist, dass wir die unselige Kluft zwischen Schule und Hochschule besser schließen müssen.“ Zudem wäre für ihn nichts effizienter, wenn man junge Leute dazu führen würde, dass sie Hochschule erleben, damit sie in der Lage wären, eine souveräne Studienentscheidung zu treffen. Der erste Schritt wäre mit Studierenden zu reden, denn niemand sei so kompetent in der Studienberatung wie sie.
Ich bin glücklich, dass ich nach fast zehn Jahren das studiere, in dem meine Stärken liegen. So begegne ich Studieninhalten, mit denen ich mich identifizieren kann. Auf meiner Reise nach Antworten bin ich für mich fündig geworden. Und dafür musste ich nicht ans Ende der Welt. Neun Jahre habe ich mich planlos im Kreise gedreht. Heute sitze ich in der Sonne. Ich bin nicht mehr verloren. Ich bin nicht „lost“.