Das geben wir den Alten auch, wenn sie ihre Tabletten nicht nehmen wollen.
Omi auf Opium
Anmerkung: Um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen, habe ich alle im folgenden Artikel vorkommenden Namen von Personen und Unternehmen geändert.
„Sie haben noch eine halbe Woche zu leben.“ Was würdest du tun, wenn dein*e Ärzt*in das zu dir sagen würde? Nochmal die Familie treffen, die Sonne ein letztes Mal genießen, neue Dinge ausprobieren ohne Konsequenzen. Drogen zum Beispiel. Ist ja die letzte Woche. Doch was, wenn diese Entscheidung gar nicht in deinen Händen liegt? Wenn dein*e Ärzt*in darauf besteht, dass bestimmte Drogen zu nehmen, das Richtige für dich ist?
So ging es Flory, die Anfang 2022 in ein Altersheim in Hessen eingezogen war. Ich kannte sie schon seit Langem. Sie war die Patentante meiner Mutter und für mich wie eine liebe Großtante. Für Ordentlichkeit, Treue und Disziplin war sie bekannt, weswegen wir nur das Beste für sie wollten und immer auf das hörten, was ihre Ärzte für sie empfahlen. Sie bekam sogenannte Fentanylpflaster verschrieben. Das sind kleine selbstklebende Folien, die einzeln auf dem Oberarm angebracht werden. In den unscheinbar aussehenden Pflastern sind starke Opioide, weshalb sie nur für Patient*innen mit großen Schmerzen vorgesehen sind. Für Menschen mit Tumorerkrankungen sind sie eine große, glückliche Erleichterung. Doch für Florys Lebensende so etwas wie eine Aufmunterung, laut Ärztin und Pflegeleitung.
Auch Rauschgiftsüchtige kennen Fentanyl. Es ist bis zu 50-mal stärker als Heroin. Ja, ihr habt richtig gelesen. Über die Todesdroge Heroin kann Fentanyl nur müde lachen. Schon drei Milligramm sind für die meisten Menschen tödlich. Deswegen ist die richtige Dosierung und Anwendung unerlässlich.
Zurück ins Altersheim. Überall weiß gestrichene Wände, ein ständig laufendes Radio mit Schlagermusik und einheitlich gestaltete Doppelzimmer. Flory, die noch nie zuvor Drogen genommen hatte, bekam die Pflaster. Einen Tag später wirkte sie ausgelassen, fast schon aufgedreht und lud alle Altersheimbewohner*innen in ihr Zimmer zum Reden und Musik hören ein. Zwei Tage später erreichte uns ein Anruf. Unsere Tante sei hingefallen, weil sie niemand beaufsichtigt hätte. Sie müsse notoperiert werden. Das wirft Fragen auf. Nicht nur Stiftung Warentest warnt ausdrücklich, man brauche bei der Einnahme eine besondere Beaufsichtigung, da man dadurch äußerst sturzgefährdet sei. Ich fasse zusammen: Eine alte Person bekommt die Todesprognose, erhält sehr harte Drogen und wird allein gelassen. Ein Einzelfall?
Die Entscheidungsmacht lag in den Händen von Florys Hausärztin, von der mir die Pflegeleitung erzählte, die ich aber nie persönlich getroffen habe. Ich musste sie natürlich sofort ausfindig machen. Vom Altersheim bekam ich nur einen knallgelben Medikamentenplan, auf dem eine Dr. Alderus unterschrieben hat. Das musste sie sein. Komisch, mir fiel auf, dass sie genau so wie ihr Unternehmen heißt. Ich googelte den Namen und suchte in jedem Telefonbuch danach, um sie zu finden. Es gab sie aber gar nicht, es wurde nur ein „Dr.“ vor den Namen des Unternehmens gesetzt. Da haben wir uns schön auf den Arm nehmen lassen. Eine Ärztin, die es nicht gab, konnte man nicht zur Rede stellen, geschweige denn zur Rechenschaft ziehen. Auch das Erstellungsdatum des Medikamentenplans konnte uns nicht weiterhelfen. Die Ärztin trug dort nämlich einfach Florys Geburtsdatum ein. Durch ihre eigene Anonymisierung und unmögliche Rückverfolgung war die Ärztin wohl aus dem Schneider. Zudem rief sie uns immer nur mit unterdrückter Nummer an und verriet dabei nie ihren Nachnamen. Ihre Taktik wirkte fast schon eingeübt und warf die Frage auf, ob sie das bei anderen Patient*innen genau so macht. Hier ließen sich jedoch nur Vermutungen aufstellen. Was aber feststeht: Im Archiv des Bundestags steht, dass jährlich sage und schreibe 250.000 Einweisungen ins Krankenhaus Medikationsfehlern verschuldet sind. Das sind gut fünf Prozent aller Einweisungen. Um so etwas zu verhindern, wurde der Medikamentenplan erfunden. Der, den Florys Ärztin anonymisiert und falsch ausgefüllt hat.
Aber warum bekam Flory nun Fentanyl? Warum gibt man Senior*innen, die im Altersheim leben, Mittel, die sie ermüden, verlangsamen und generell herunterfahren lassen? Die Antwort gibt mir eine aus dem Nähkästchen plaudernde Pflegerin aus einem anderen Heim, die nicht beim Namen genannt werden möchte: „Das [Fentanyl] geben wir den Alten auch, wenn sie ihre Tabletten nicht nehmen wollen.“
Man kann verstehen, dass das Pflegepersonal mehr als überlastet ist, unterbezahlt wird und es eine Qual sein kann, sich ständig mit dementen Patient*innen darüber zu streiten, dass sie doch ihre Tabletten einnehmen sollen. Fraglich ist allerdings, ob das die fälschliche Verschreibung von Opioiden an gebrechliche Menschen rechtfertigt. Besuchte ich meine Großtante im Altersheim, durfte ich oft dabei zusehen, wie allerlei Tabletten sorgfältig zermörsert und in ihr Essen gemischt wurden. Das waren allerdings genau die Tabletten, die sie davor abgelehnt hatte.
Flory weilt seit Ende 2022 leider nicht mehr unter uns. Sie segnete das Zeitliche genau vier Monate nach der „halben Woche“, die ihr die Ärztin und Pflegeleitung noch gegeben hatten.
Das Problem von Medikationsfehlern in der Altenpflege besteht weiterhin. Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen und über verschriebene Medikamente selbst zu recherchieren. Ich hoffe auf Gerechtigkeit für alle alten Menschen, denen die Entscheidungsfähigkeit abgesprochen wurde. Gerechtigkeit für Flory.