„Die Leute müssen sich bewusst machen, was es für eine Verantwortung mit sich bringt, ein Tier zu holen.“
Acht Uhr morgens. Start in den Tag für Tierpfleger Marcel. Seit drei Jahren arbeitet er im Kreistierheim Böblingen. Auf den ersten Blick mag er vielleicht etwas verschlossen wirken, doch direkt auf den zweiten Blick zeigt sich sein großes Herz für Tiere und die Leidenschaft, für das, was er tut. Was heute ansteht, weiß er immer erst kurz nach Arbeitsbeginn – er arbeitet als Springer und übernimmt unterschiedliche Aufgaben. Alles, was gerade eben so anfällt: Vom Tiergehege putzen über das Füttern der Hunde, Katzen und Kaninchen bis hin zur medizinischen Versorgung der Vierbeiner. Marcel ist eigentlich gelernter Hotelfachmann, allerdings hat er nach ein paar Jahren in der Branche eine Umschulung zum Tierpfleger gemacht. „Ich arbeite lieber mit Tieren als mit Menschen, das ist mir hier definitiv klar geworden“, erzählt er. „Sie geben immer etwas zurück."
Auf dem Plan steht jetzt die Versorgung von Mischlingshündin Dolly. „Man hat sie einfach an einer Tankstelle ausgesetzt und sie wurde vor ein paar Tagen bei uns abgegeben“, berichtet Marcel. Aktuell ist sie noch im Quarantänebereich und bekommt viele Medikamente, die Marcel ihr gleich zu fressen gibt. Er vermutet, die vielen Medikamente die sie benötigt, könnten auch der Grund sein, warum sie ausgesetzt wurde. Dolly macht einen lieben, aufgeweckten Eindruck. Sie wuselt in ihrem spärlich ausgestatteten Quarantänezimmer umher und wedelt freudig mit dem Schwanz, als Marcel die Tür öffnet. Anzeichen, dass sie lieblos an einer Tankstelle sitzen gelassen wurde, sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
Doch zur Medikamenteneinnahme muss Dolly wieder in ihr Einzelzimmer. Sie fängt an laut zu bellen und kratzen und so schnell Marcel auch reagiert hat, schon hat die Hündin ihn gebissen. „Tiere sind immer unberechenbar und auch als erfahrener Tierpfleger muss man immer aufpassen.“ Auch das muss er jeden Tag aufs Neue lernen. Der Biss war zum Glück nicht allzu schlimm, doch die Wunde zu versorgen ist trotzdem wichtig.
Im Böblinger Kreistierheim sind momentan 45 Katzen, 14 Hunde und 20 Kleintiere untergebracht. Darunter Kaninchen, bunte Kanarienvögel, eine Schlange und sogar ein Graupapagei. Allgemein verbringt der Großteil der festangestellten Tierpfleger*innen jeden Vormittag damit, die Tiergehege zu putzen und die Tiere zu füttern. Darüber hinaus fallen Aufgaben wie Tierkontrollen, medizinische Versorgungen oder Tierarztbesuche an.
Tierheimleiter Thorsten Strotmann ist besonders mit den organisatorischen Aufgaben beschäftigt: Sämtliche Termine, Telefonate oder Aufklärungsgespräche sind Teil des Aufgabengebiets. „Wir leisten einen großen Teil der Aufklärungsarbeit, besonders für Leute die daran interessiert sind, einem Tier ein neues Zuhause zu geben.“ Oft kommen dann Interessenten einfach für einen ersten Eindruck vorbei und man schaut genau, welches Tier zur jeweiligen Person passen könnte – oder ob überhaupt die Haltung eines Tieres infrage kommt, erklärt Thorsten. Das ist auch ein großer Unterschied zur Tiervermittlung durch private Züchter*innen oder Zoohandlungen.
Wenn das Tierheim kein Tier vermitteln will, weil das neue Zuhause den Tieren nicht gerecht wird, oder die neuen Halter*innen vielleicht nicht das für sie passende Tier möchten, holen sich die Menschen ihre neuen Weggefährten einfach aus irgendeiner Zoohandlung oder aus privaten Zuchten. „Da wird oft nicht geprüft, ob die Person überhaupt die nötige Verantwortung mitbringt, wie genügend finanzielle Mittel, Zeit und Kraft dem Tier gerecht zu werden, oder ob das Tier ein artgerechtes neues Zuhause bekommt“, schildert Thorsten. Tiere können viel zu leicht „einfach im Internet gekauft werden“, ohne irgendwelche Prüfungen oder Genehmigungen. Einfach weil „gewinn- und profitorientiert gearbeitet wird“. Das Tierheim hingegen schaut, wo es das richtige Zuhause gibt, „da prüfen wir genau nach“, sagt Thorsten. Oft werden die Tiere eben leicht erworben und nach kurzer Zeit stellt sich heraus: Die Person möchte das Tier nicht mehr haben. Das Ende vom Lied: Sie werden ins Tierheim gebracht, wo man eigentlich von einer Zulegung abgeraten hat, und werden schlussendlich an jemand Passendes weitervermittelt.
Für Tierpfleger Marcel steht nun die nächste Aufgabe an. Direkt nachdem Dolly mit ihren Medikamenten versorgt wurde, macht sich sein kleines schwarzes Funkgerät bemerkbar, das an seinem Gürtel befestigt ist. Seine Kollegin gibt ihm per Funk Bescheid und er eilt zügig ins Hauptgebäude zur Rezeption. Ein Abgabehund wird jeden Moment im Tierheim eintreffen. Ein großer, schmaler Mann, circa um die 60, steht bereits im Eingangsbereich. Marcel geht zur anderen Seite des Tresens, begrüßt ihn knapp.
Marcel braucht nur den Personalausweis und die Papiere des Hundes, einen Impfpass besitzt dieser allerdings nicht. Angeblich hätte es nie einen vom Züchter gegeben. Aus dem Auto auf dem Parkplatz ertönt bereits zum zweiten Mal die Alarmanlage, Leni will offenbar nicht länger warten. Der zweite Besitzer von Leni holt die aufgeregte, altdeutsche Schäferhündin nun endlich aus dem Auto.
Was bewegt Menschen dazu, ihr Tier einfach abzugeben? „Wir sind nach 16 Jahren von Afrika wieder zurück nach Deutschland gekommen und wollten uns gerne einen Hund zulegen, so wie früher“, erzählt der Mann aufgeschlossen. Trauer darüber, oder Verzweiflung, dass dieser jetzt nach nur wenigen Wochen wieder wegmuss – Fehlanzeige. Nach einer kurzen, vorerst endgültigen Verabschiedung und einem letzten Mal Streicheln von ihren Besitzern, wird Leni nun von Marcels Kollegin weggebracht. Den Vorschriften entsprechend erstmal in eines der Quarantänezimmer im tiermedizinischen Bereich. Schwanzwedelnd läuft sie an der Leine mit, ohne noch einmal innezuhalten und sich zu ihren alten Besitzern umzudrehen. Die beiden Männer wirken der Situation entsprechend sehr gelassen. Man könnte meinen, sie hätten gerade eher ein Möbelstück zur Verschenkbörse gebracht, anstatt ein Lebewesen im Tierheim abzugeben.
Als Grund für die Abgabe nennt der Mann in erster Linie die zu kleine Wohnung. Sie hätten eher ein Haus mit großem Garten gebraucht. Auch sei ihnen die Hündin zu aufgedreht und man benötige zu viel Kraft, sie zu halten. Am Ellbogen trägt einer der Männer ein großes Pflaster. „Das ist im Park passiert, als Leni plötzlich losgerannt ist. Ich konnte sie kaum halten, bin auf den Boden gefallen und wurde über den Schotter mitgeschleift“, erzählt er. Bei einem Hund dieser Rasse sollte einem die enorme Kraft, die sie besitzen, allerdings bewusst sein. Sich darüber im Voraus ausreichend Gedanken zu machen war hier nicht der Fall. Auch Marcel kann nur den Kopf schütteln. „Die Leute müssen sich bewusst machen, was es für eine Verantwortung mit sich bringt, ein Tier zu holen“, sagt er mit wenig Verständnis für die Situation, während er sich einen Kaffee in der Mitarbeiterküche macht und kurz durchatmet. Das wünscht er sich besonders auch für die Zukunft.
Etwas mehr als ein Viertel der Tiere, die im Böblinger Kreistierheim landen sind Abgabetiere wie Hündin Leni. Mehr als die Hälfte der Tiere sind Fundtiere wie Dolly. Diese müssen aufgenommen werden. Abgabetiere hingegen nicht verpflichtend. In den meisten Fällen ist das aber der Standard, wenn genügend Kapazitäten da sind. „Wir nehmen nicht jedes Abgabetier an, wir müssen auch erstmal schauen, ob wir das Tier wirklich nehmen können oder möchten, das kommt immer drauf an“, erklärt Tierheimleiter Thorsten.
Nach Hochrechnungen des Deutschen Tierschutzbundes werden jährlich rund 350.000 Tiere in Tierheimen aufgenommen. Um die 240.000 Tiere werden hingegen vermittelt oder adoptiert. Trotz der oft hohen Belegungszahlen versucht Thorsten eine ständige Vermittlung aufrechtzuerhalten. Große Hilfe sind dabei die vielen ehrenamtlichen Mitarbeitenden, die die knapp 20 Festangestellten unterstützen. Sie kommen hauptsächlich zum Gassigehen der Hunde. Diese müssen jeden Tag raus und bewegt werden. „Würde das ein festangestellter Tierpfleger übernehmen, wäre man allein schon den ganzen Arbeitstag mit Gassigehen beschäftigt“, sagt er.
Doch nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden durch die Hilfe der Freiwilligen unterstützt. Auch finanziell sind sie eine Hilfe. Das Kreistierheim Böblingen erhält zwar einen Zuschuss vom Landkreis und bekommt öffentliche Gelder, allerdings sind die Tierarztkosten in den letzten Jahren „explodiert“, schildert Thorsten. Die Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte (GoT) wurde im November 2022 aus wirtschaftlichen Gründen stark erhöht. Grund dafür ist laut Bundestierärztekammer unter anderem, dass die „Behandlungen für Tierarztpraxen kostendeckend sind“. Neben den Tierheimen sind durch die steigenden Gebühren aber auch Tierhalter*innen stark davon betroffen. Zu hohe Kosten sind oft der Grund für die Abgabe eines Tieres, besonders bei Hunden, die nochmal einen ganz anderen Kostenfaktor mit sich bringen als beispielsweise Katzen. „Es muss jedem klar sein, was auf einen zukommt, wenn man sich ein Haustier anschaffen möchte“ betont Thorsten nochmals. „Es sollte auf jeden Fall mehr Bewusstsein für den Wert der Tiere geschaffen werden.“ Deshalb ist es auch so wichtig, dass im Tierheim nicht nur Arbeit für die Tiere geleistet wird, sondern auch Aufklärungsarbeit für die Menschen.
Für Tierpfleger Marcel ist jetzt erstmal die wohlverdiente Mittagspause angesagt. Allein der Vormittag zeigt, wie viel Arbeit Tiere fordern und dass dieser Job ganz klar „mehr als nur 8 Stunden hinsetzen und Tiere streicheln ist“, betont Marcel. Trotz allem hatte der Tag bisher auch ein sehr schönes Ereignis – zwei Katzen haben ein neues Zuhause bei einer Familie gefunden. Sie wurden am Morgen abgeholt. Ein junges Mädchen hielt freudestrahlend und stolz die Box mit den zwei Katzen in der Hand. Marcel hofft das Beste, ist aber zuversichtlich, dass sie ein langes, glückliches Leben bei ihrer neuen Familie haben. Für ihn ist es im Tierheim Alltag, dass dieser Ort eine Möglichkeit für Menschen ist, ihr Tier abzugeben und zugleich die Tiere hier eine neue Chance auf ein Zuhause bekommen. Und jeden Tag aufs Neue weiß Marcel, dass er seinen Job gerne macht.
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Alle Bild- und Videoaufnahmen dieser Reportage wurden von der Autorin selbst aufgenommen.