Ausbildung für den Ausnahmezustand

Ausbildung für den Ausnahmezustand

Das Technische Hilfswerk (THW) wird hauptsächlich durch ehrenamtliche Einsatzkräfte verkörpert. Doch wie werden diese eigentlich ausgebildet?

Das Technische Hilfswerk (THW) wird hauptsächlich durch ehrenamtliche Einsatzkräfte verkörpert. Doch wie werden diese eigentlich ausgebildet?

Ein Einblick in einen Ausbildungsdienst der Katastrophenschutzorganisation mit Gruppenführerin Anna Mirl.

Ein Einblick in einen Ausbildungsdienst der Katastrophenschutzorganisation mit Gruppenführerin Anna Mirl.

„Bereit?“, schallt es unter dem tonnenschweren LKW nach draußen. „Ja!“, antwortet ein Mann, der vor dem Fahrzeug kniet. Er trägt eine blaue Einsatzmontur und einen gelben Helm auf dem Kopf. THW steht auf dem neongelb reflektierenden Rückenschild seiner Jacke. Seine Hände stecken in dicken Arbeitshandschuhen und halten eine Art orange-schwarz gemustertes Kletterseil fest. Das Seil läuft geradlinig auf den großen LKW zu und verschwindet unter diesem. „Okay, dann los“, ruft jemand unter dem Fahrzeug.

Der Mann mit dem Seil in den Händen beginnt zu ziehen.

Der Mann mit dem Seil in den Händen beginnt zu ziehen.

Begleitet vom lauten Knirschen von Metall auf Beton kommt ein trageartiger Metallkorb zum Vorschein, dicht gefolgt von zwei weiteren Personen in Einsatzkleidung, die unter dem Fahrzeug hervorkriechen.

Begleitet vom lauten Knirschen von Metall auf Beton kommt ein trageartiger Metallkorb zum Vorschein, dicht gefolgt von zwei weiteren Personen in Einsatzkleidung, die unter dem Fahrzeug hervorkriechen.

Neben dem LKW steht eine Frau und beobachtet das Geschehen. Aus ihrer Brusttasche ragt ein Funkgerät, dessen Mikrofon sie sich um den Hals gehängt hat. Ihre rotbraunen Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In den Händen hält sie eine blaue Mappe, auf der ein großes Klemmbrett festgemacht ist. Im Metallkorb liegt Brunhilde. Sie ist eine Puppe und trägt einen ramponierten Blaumann. Die Rettung einer verunglückten Person unter einem Fahrzeug ist heute nur Ausbildungsszenario. Mit leicht zusammengekniffenen Augen beobachtet die Frau mit dem Pferdeschwanz, wie die Einsatzkräfte die lebensgroße Übungspuppe abschnallen, aus dem Korb heben und langsam auf dem Boden ablegen. Sie schaut auf die Uhr an ihrem Arm und notiert etwas auf dem Klemmbrett.

Sie trägt dieselbe blaue Einsatzuniform mit Deutschlandflaggen an den Oberarmen wie die anderen auch.

Sie trägt dieselbe blaue Einsatzuniform mit Deutschlandflaggen an den Oberarmen wie die anderen auch.

Lediglich das Namensschild und das Abzeichen auf der Brust unterscheiden sie vom Rest. „A. Mirl“ und ein Symbol, das sie als Gruppenführerin auszeichnet.

Lediglich das Namensschild und das Abzeichen auf der Brust unterscheiden sie vom Rest. „A. Mirl“ und ein Symbol, das sie als Gruppenführerin auszeichnet.

Anna Mirl ist seit 2013 freiwillige Helferin beim THW und leitet die heutige Übungseinheit.

Anna Mirl ist seit 2013 freiwillige Helferin beim THW und leitet die heutige Übungseinheit.

Aufmerksam wurde Mirl auf die Katastrophenschutzorganisation durch ihren Ehemann, der dort bereits ehrenamtlich tätig war. Als sie bei Öffentlichkeitsveranstaltungen aushalf, fand sie Gefallen an der Teamarbeit der Helfer*innen. „Dieses gemeinsame Anpacken, was schaffen und zufrieden danach mit sich sein, dass man als Team etwas geschafft hat.“ Das habe sie motiviert, ebenfalls der Katastrophenschutzorganisation beizutreten, erklärt die 32-Jährige. Hauptberuflich ist Mirl Entwicklungsingenieurin für Motorsägen. „Das ist auch etwas Technisches, aber weniger etwas, bei dem man körperlich was schafft“, erzählt sie. Das THW stelle für sie eine Art Ausgleich dar. Ein Ausgleich, in den sie in Form von Übungen, Diensten und Einsätzen ungefähr 500 Stunden pro Jahr investiert.

Das THW

Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ist eine Zivil- und Katastrophenschutzorganisation des Bundes und unterliegt dem Innenministerium. Zu den Aufgaben der Organisation gehören unter anderem das Errichten von grundlegender Infrastruktur und die Bergung von Personen in Katastrophengebieten. Bei Großeinsätzen kann das THW außerdem Kommunikations- und Logistikaufgaben übernehmen. Die verschiedenen Aufgabenbereiche werden von Helfer*innen in spezialisierten Fachgruppen abgedeckt. Rund 88.000 ehrenamtliche Einsatzkräfte sind in den 668 Ortsverbänden in ganz Deutschland aktiv. Über 2.200 hauptamtlich Beschäftigte der Bundesanstalt unterstützen die Ehrenamtlichen, indem sie Organisations- und Verwaltungsaufgaben übernehmen.

Quelle: Bundesanstalt Technisches Hilfswerk

Heute steht sie bereits seit 8 Uhr auf dem Hof des THW-Ortsverbands Kirchheim. Es ist der zweite Samstag im Monat. Für die Einsatzkräfte heißt das: Zugdienst. Beim Zugdienst üben die Helfer*innen in ihren Fachgruppen den Umgang mit Geräten und proben verschiedene Einsatzszenarien. Verantwortlich für diese praktischen Ausbildungs- und Übungseinheiten sind die Gruppenführer*innen. Mirl ist zuständig für die Fachgruppe „Schwere Bergung“. Im Einsatzfall ist ihre Gruppe dafür zuständig, verschüttete oder eingeklemmte Personen mithilfe von verschiedenen Werkzeugen und Geräten aus schwer zugänglichen Orten zu befreien und zu retten.

Ausbildung von THW-Helfer*innen

Damit die Helfer*innen in einen echten Einsatz gehen dürfen, müssen sie erst die Grundausbildung absolvieren. Diese dauert zwischen einem halben und einem ganzen Jahr, umfasst etwa 100 Stunden und wird in den Ortsverbänden von den ehrenamtlichen Einsatzkräften durchgeführt. „Das ist sozusagen das Erlernen der Basisfähigkeiten, die man braucht, um verschiedenste Einsätze zu bewältigen“, erklärt Jens Olaf Sandmann, Leiter des THW-Ausbildungszentrums Neuhausen. Das Ausbildungszentrum ist eines von dreien in Deutschland, in denen spezielle weiterführende Ausbildungen für die Einsatzkräfte durchgeführt werden. Nach der Grundausbildung folgt dann die Zuteilung zu einer der Fachgruppen des Ortsverbandes und damit die sogenannte Fachausbildung. „Diese dauert dann, je nachdem, wie regelmäßig man zu den Ausbildungsdiensten im Ortsverband kommt, auch noch mal zwischen ein und zwei Jahren“, so Sandmann. In der Fachausbildung werden die Einsatzkräfte für die entsprechenden Aufgaben der jeweiligen Fachgruppe ausgebildet. So wie beim Zugdienst an diesem Samstag.

"Das ist sozusagen das Erlernen der Basisfähigkeiten, die man braucht, um verschiedenste Einsätze zu bewältigen."

Jens Olaf Sandmann, Leiter des THW Ausbildungszentrums Neuhausen

„Heute geht es nicht darum, Neues zu lernen, sondern Gelerntes zu wiederholen und möglichst schnell umzusetzen“, verkündet Mirl den Helfer*innen, die bei Dienstbeginn in der Morgensonne vor ihr stehen. Neben der Rettung von Brunhilde stehen heute drei weitere Stationen auf dem Plan:

Metallbearbeitung mit der hydraulischen Schere,

Metallbearbeitung mit der hydraulischen Schere,

Anheben einer Betonplatte mit Hebekissen

Anheben einer Betonplatte mit Hebekissen

und Aufbauen eines Lichtstatives.

und Aufbauen eines Lichtstatives.

Mit der hydraulischen Schere können im Einsatz beispielsweise Personen aus Autowracks befreit werden. Das Hebekissen kann genutzt werden, um schwere Objekte anzuheben und somit den Zugang zu verschütteten Personen zu ermöglichen. Mit Lichtstativen können Einsatzstellen ausgeleuchtet werden. Doch das sind größtenteils Dinge, welche die Helfer*innen bereits in der Grundausbildung lernen. Heute steht das Zeitmanagement im Vordergrund. In Kleingruppen sollen die Einsatzkräfte die verschiedenen Stationen absolvieren und zuvor abschätzen, wie lange sie dafür brauchen werden. Da sie nicht an allen Stationen gleichzeitig sein kann, müssen die Helfer*innen Mirl per Funk Bescheid geben, sobald sie die Übung beginnen und beenden. Sie stoppt dann die Zeit. „Es geht dabei um die Selbsteinschätzung“, sagt Mirl. Ein realistisches Einschätzungsvermögen der benötigten Zeit sei wichtig für die Helfer*innen im echten Einsatz.

Bei einem Einsatz des THW sind es schließlich diese Helfer*innen, die ausrücken. Es hängt also vieles von der Qualität der Ausbildung der Einsatzkräfte ab. Damit diese in den unterschiedlichen Ortsverbänden gesichert ist, gibt es laut Sandmann gewisse Regelungen, zumindest für die Grundausbildung. Einerseits seien dies die einheitlichen Ausbildungsunterlagen, an welchen sich die Ausbildenden orientieren. Andererseits werde bei der praktischen Prüfung am Ende der Grundausbildung das Können der angehenden Helfer*innen durch verschiedene Prüfer*innen aus unterschiedlichen Ortsverbänden getestet. Danach gebe es solche Regelungen aber nicht mehr, führt Sandmann fort. „Wir wollten für die Fachausbildung mal so eine Art Prüfung oder ein einheitliches Ausbildungssystem einführen, haben uns dann aber dagegen entschieden.“ Grund hierfür sei vor allem die Schwierigkeit gewesen, alle Helfer*innen einer Gruppe immer auf dem gleichen Ausbildungsstand zu halten.

Üben für den Ernstfall

Mit ihrem Klemmbrett unter dem Arm geht Mirl auf die drei Einsatzkräfte zu, welche soeben die Übungspuppe gerettet haben. Sie hatten geschätzt, dass sie die Aufgabe in 30 Minuten absolvieren können. Nach 27 Minuten war Brunhilde in Sicherheit. Als Mirl die Zeit verkündet, schauen sich die Helfer*innen zufrieden an. „Lief gut“, sagt einer von ihnen. Mirl stimmt dem zu. Nur eine Sache hat sie auszusetzen. Sie sah, wie die Einsatzkräfte den Metallkorb erst mit einer anderen Leine unter dem Fahrzeug hervorziehen wollten. Nach einem Hinweis von Mirl bemerkten diese ihren Fehler jedoch. „Bei der Personenrettung muss wirklich jedes Material auch dafür geeignet sein“, erklärt sie eindringlich. Eine solche Leine sei dabei nach THW-Vorschriften als Sicherung nicht in Ordnung. Eigentlich eine Kleinigkeit. Mirl sei es jedoch wichtig, dass die Helfer*innen so vorgehen, dass es auch im Ernstfall sicher wäre.

Denn die Verantwortung für die Fachausbildung liegt größtenteils in den Händen der ehrenamtlichen Führungskräfte. „Ich muss zusehen, dass sich der Qualifizierungsstand in meiner Gruppe immer weiterentwickelt“, sagt Mirl. Anfangs habe sie diese Verantwortung noch etwas abgeschreckt. Mittlerweile freue sie sich aber über die Möglichkeit, ihr Wissen weiterzugeben. „Jetzt macht mir das total Spaß, die Leute in ihrer Entwicklung so zu unterstützen.“ Bei den heutigen Übungen achtet sie vor allem auf die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften und die Zusammenarbeit der Teilnehmenden. „Man merkt den unterschiedlichen Erfahrungsstand der Helfer“, sagt sie. Manche seien schon länger im THW und bereits bei vielen Einsätzen dabei gewesen. Andere hingegen haben weniger Erfahrung.

Während die Gruppen sich den Aufgaben widmen, läuft Mirl die Stationen ab und beobachtet aufmerksam das Verhalten der Helfer*innen. Als eine Gruppe die große Betonplatte anhebt, fällt ihr etwas auf.

Die Einsatzkräfte müssen die angehobene Platte stetig mit Holzkeilen unterbauen.

Die Einsatzkräfte müssen die angehobene Platte stetig mit Holzkeilen unterbauen.

Doch ein Helfer trägt dabei keine Einsatzjacke. „Ohne vollständige Schutzausstattung nicht in den Gefahrenbereich!“, ermahnt Mirl ihn. Der Helfer versucht sich zu erklären: Ihm sei in der Sonne warm geworden. Mirl bleibt hart: „Du kannst die Jacke ausziehen, aber dann darfst du nicht in den Gefahrenbereich.“ Im Einsatz sei sie schließlich auch dafür verantwortlich, dass ihre Einsatzkräfte unversehrt wieder zurückkehren.

Diese müssen jährlich mindestens 120 Dienststunden leisten, damit eine regelmäßige Teilnahme an THW-Diensten und somit ein ausreichender Ausbildungsstand der Helfer*innen gewährleistet ist. „Ansonsten wäre das tatsächlich ein Abmahnungsgrund“, so Mirl. Zur Teilnahme zwingen möchte sie aber niemanden. „Austreten kann jeder, wenn er möchte. Und das ist eigentlich nicht mein Ziel.“ Sie sehe es als ihre Aufgabe, einen Anreiz zu schaffen, sodass die Helfer*innen motiviert und mit Spaß an der Sache sind. „Durch eine gute Ausbildung, eine coole Übung und ein gemeinsames Erfolgserlebnis kann man eigentlich alle motivieren, sodass sie beim nächsten Dienst wieder hier sind.“

„Austreten kann jeder, wenn er möchte. Und das ist eigentlich nicht mein Ziel.“

Anna Mirl, Gruppenführerin beim THW

Das ist ihr an diesem Samstag wohl gelungen. „War eine tolle Übung“, meint ein Helfer am Ende des Dienstes. „Durch den Zeitdruck plant man die Aufgaben besser und macht sich mehr Gedanken darüber, wie man diese am effizientesten löst.“ Auch der Rest der Einsatzkräfte zeigt sich zufrieden mit der vierstündigen Ausbildungseinheit. Für Mirl war der Dienst ebenfalls erfolgreich. Die Gruppen haben alle Übungen bewältigen können, meistens auch nah an der geschätzten Zeit. Mit der Nachbesprechung endet der heutige Zugdienst. Brunhilde wartet sicher verstaut auf ihren nächsten Einsatz.

Transparenzhinweis:
Der Redakteur ist ebenfalls Mitglied des Technischen Hilfswerks.