Opa und die Liebe
Bei unseren regelmäßigen Telefonaten gibt es ein immer wiederkehrendes Thema: Ob ich denn mittlerweile mal einen Freund hätte? An der Uni müsse es doch irgendwo einen netten jungen Mann geben? Kann schon sein, hat bisher aber noch nicht geklappt. Seufzend vertröste ich Opa und die Aussicht auf Urenkelkinder also auf später.
„Zu meinen Zeiten war das ja noch anders“, setzt er gleich nach. Da wurde fein säuberlich der Hof gemacht (und nein, ich spreche hier nicht von der im Schwabenland heiligen Kehrwoche), sich manierlich für die Tanzstunde verabredet und viel früher geheiratet. Begriffe wie „Ghosten“, „Netflix& Chill“ oder „Fuckboy“ existierten nicht. Als ich Opa daraufhin von Tinder erzähle, kann ich ihn durch das Telefon mit den Augen rollen hören. Man könne doch seine wahre Liebe nicht im Internet finden (die Jugend von heute mal wieder). Es gilt, dem potenziellen Partner in die Augen zu schauen, um herauszufinden, „aus was für einem Holz er geschnitzt ist“.
Er muss es wissen: Mein Opa hat Oma im Jahre 1946 im Alter von 21 Jahren kennengelernt, als er gerade aus der Kriegsgefangenschaft in Italien zurückgekommen war. Ganz romantisch beim Schlittenfahren in Lüdenscheid (damals lag ja auch noch Schnee…). Eigentlich war Opa zu der Zeit noch mit einem anderen Mädchen zusammen. Aber als er Oma sah, wusste er sofort: „Das könnte die Frau meines Lebens sein“. Bei vielen gemeinsamen Spaziergängen (die Datingstrategie „Filmschauen“ war da noch nicht in Mode) lernten sie sich näher kennen. Bereits zwei Jahre später stellte Opa dann die alles entscheidende Frage. Als meine Oma 2017 starb, waren es 67 glückliche Jahre Ehe. Seitdem fährt Opa jeden Tag und bei praktisch jedweder Wetterlage mit seinem „Ferrari“, einem Elektromobil mit 20km/h Höchstgeschwindigkeit, elf Kilometer zum Friedhof, um ihr Grab zu besuchen. Davon abhalten könnte ihn höchstens ein Tsunami gehobener Stärke.
Aber alle Frotzelei mal beiseite: es ist eigentlich bewundernswert. Manchmal bin ich neidisch auf diese Art von Liebe. Bedingungslose Treue. Davon könnten sich viele einmal eine Scheibe abschneiden. Ich sage nicht, dass es solche Beziehungen heute gar nicht mehr gibt. Aber sie sind seltener geworden. Ich bin jetzt 21 – in dem Alter hatte mein Opa seine große Liebe schon gefunden. In meiner Generation jedoch sind viele so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich auf niemanden einlassen wollen (#selflove statt #couplelove). Wer weiß, was noch passiert! Oder ob nicht doch noch jemand Besseres um die Ecke kommt. Bindungsangst nennt man das.
In Zeiten von Tinder, Bumble & Co., die oft nur für schnelle Stelldicheins (um es mal jugendfrei in der Sprache meines Opas auszudrücken) dienen, scheint die "wahre Liebe" immer weniger zu bedeuten. Ist der Fortschritt der Digitalisierung der Tod der Romantik? Auf jeden Fall hat er uns bequemer gemacht. Wir können zuhause bleiben und andere Menschen - relativ anonym - online von der Couch aus kennenlernen. Nicht nötig, jemanden im wahren Leben anzusprechen. Digitale Körbe sind ja auch viel leichter hinzunehmen als echte. Opa seufzt in den Hörer. Als er jung war, war es mit am wichtigsten, jemanden zu finden, mit dem oder der man sein Leben verbringen kann. Heute oft nicht mehr. In den letzten hundert Jahren ist das Leben sehr viel mehr komplexer geworden. Wir seufzen beide.
Aber warum verhielt es sich mit diesen Beziehungsangelegenheiten einmal anders? Die Jugend früher wurde – auch durch den Einfluss der Nazis – viel strenger erzogen. Küssen in der Öffentlichkeit war gar nicht gern gesehen, „in den Arm nehmen konnte man sich auch nur heimlich“, erzählt Opa. Außerdem hatte Sex eine viel größere Bedeutung. Dates dienten nicht dazu, am Ende im Bett zu landen. „Es ging darum, den anderen richtig kennenzulernen.“ Heute sei das Ganze seiner Meinung nach freier, weil die Erziehung lockerer ist. Leider gehe aber damit einher, dass viel zu wenig Wert auf Respekt, Wahrheit, Offenheit, Anstand und Treue gelegt würde. Da hat er Recht. Auch einige Manieren wie die Tür aufhalten, den Stuhl zurechtrücken oder in den Mantel helfen sind keine Selbstverständlichkeit mehr heutzutage. Nennt mich altmodisch - aber manchmal wünscht man sich einfach wieder ein bisschen mehr Anstand zurück. Ich will an dieser Stelle nicht behaupten, dass früher alles besser war. War es nicht. Trotzdem sollten wir uns in manchen Belangen vielleicht wieder mehr an den Werten vergangener Zeiten orientieren.
Ich fasse also zusammen: Finger (weiterhin) weg vom Online-Dating. Wenn es im nächsten Winter in Stuttgart wieder schneit, kann ich vielleicht mal den Schlitten auspacken. Man weiß ja nie. Was meinen Zukünftigen betrifft, hat Opa natürlich auch schon ein paar Vorstellungen: Vorzugsweise ein (angehender) Jurist oder Arzt mit ordentlicher Frisur und einer Vorliebe für Hemden. Kennt da jemand wen?