Ohne diese Leute wüsste ich nicht, wo ich heute stehe.
Trotz der Hindernisse hoch hinaus
Die Halle ist nahezu menschenleer. Nur Marcel und Trainerin Birgit stehen in sportlicher Kleidung in der Mitte. Marcel zieht ein letztes Mal an seinem Brustgurt, ehe er einen Schritt nach vorne macht. Links steht Birgit, durch ein Panoramafenster sieht man das große Bergmassiv der Zugspitze. Nach einem weiteren Schritt steht Marcel unmittelbar vor der Herausforderung: Ein Massiv mit hunderten bunten Aussparungen erstreckt sich 17 Meter in die Höhe. Dort baumelt ein ebenso langes Seil vom höchsten Punkt Richtung Boden: Ein Ende in Marcels Gurt, das andere Ende in den Händen von Birgit. „Bereit?“, fragt Birgt. „Bereit!“, sagt Marcel und setzt den ersten Schritt auf eine der blauen Aussparungen.
Eine halbe Stunde vorher: Die Sonne lacht über Tirol. Die Zugspitze thront mit einer Wolkenkrone wie ein König über Ehrwald, einem Dorf mit rund 2600 Einwohnern. Einer davon ist Marcel Richter. Er wartet in einem grauen T-Shirt und einer beigen Hose vor der Kletterhalle am Ortsrand. Marcel schließt die Kletterhalle auf und macht sich auf den Weg zur Kasse, um den Schlüssel für den Kühlschrank zu holen. Diesen kann er aber nicht selbst öffnen. „Sonst muss ich klettern“, meint Marcel und deutet auf das Schloss am oberen Ende des Kühlschranks.
Obwohl Marcel einer der vielen Kletterer im Alpenland ist, sticht er heraus. Er ist ein Kletterer mit Behinderung, ein Paraclimber. Marcel hat von Geburt an das Baller-Gerold-Syndrom. Diese seltene Erbkrankheit hat sich auf die körperliche Entwicklung von Marcel ausgewirkt: Er ist nur 1,50 Meter groß, hat zwei deformierte Hände sowie fehlgestellte und unterschiedlich große Füße. Außerdem besitzt er keine Kniescheiben. Seine fehlgestellten Hände sind für Marcel der größte Dorn im Auge. Durch die fehlende Kraft in den Fingern konnte er viele alltägliche Aufgaben nur schwer bewältigen. „Den ganzen Tag einen Ball zu kneten, wird irgendwann schnell langweilig“, scherzt der Parasportler, während er mit seinen Fingern an den Henkeln die Kaffeetassen aus dem Schrank holt. Ohne Training wäre das nicht möglich gewesen. Alles begann mit einer Freundin, die ihm physiotherapeutisches Klettern empfahl. Diese ersten Erfahrungen waren der Anstieg auf den Berg, der Marcels Leben veränderte.
Vom Hund zur Hängepartie
Plötzlich hört Marcel Geräusche an der Tür. Birgit kommt herein und bringt tierische Begleitung mit: Ihren Australian Shepherd Bliss. Birgit Standke ist Klettertrainerin in Tirol und ein wichtiger Bestandteil in Marcels alpiner Geschichte. Ihr Kennenlernen gleicht einer Szene aus einem Fernsehfilm am Sonntagabend. Auf einer Alpinsport-Messe 2015 in Garmisch betreute Birgit eine Felskletter-Einheit. Kiwi, ihr anderer Australian Shepherd, erspähte Marcel und lief zu ihm hinüber. So kamen beide ins Gespräch und Marcel konnte erste Erfahrungen im Felsklettern machen. Ein halbes Jahr und einen Urlaub an der Zugspitze später zog Marcel von Dresden nach Ehrwald und fand in der Kletterhalle einen neuen Arbeitsplatz.
Marcel und Birgit sind seitdem sehr gute Freunde und gehen auf gemeinsame Abenteuer in den Bergen. Marcel fühlt sich in Ehrwald pudelwohl: Jeder kennt jeden und jeder hilft jedem. Ein kurzes Gespräch auf dem Weg zum Auto oder beim Mittagessen am Dorfplatz sind selbstverständlich. "Im Vergleich zu hier war Deutschland schon sehr fade", erinnert sich der gebürtige Sachse. Neben Birgit lernte er viele weitere Leute kennen: Kletter*innen, Bergführer*innen und andere Sportler*innen unterstützen ihn bei seinen sportlichen Aktivitäten. Diese Freundschaften sind wichtig, schließlich ist die Unfallgefahr durch Marcels Einschränkungen wesentlich höher. „Wir schauen immer, dass es für Marcel so ungefährlich wie möglich ist“, betont Birgit. Solomissionen mit hohen Schwierigkeiten kommen für den 33-jährigen nicht in Frage.
Während sie die Ausrüstung vorbereiten, planen sie bereits die nächsten Ausflüge. Marcel beginnt, seinen Klettergurt und Schuhe anzuziehen. Birgit tut es ihm gleich. Das Equipment ist für alle Kletternden von immenser Bedeutung. Gurt und Schuhe müssen gut sitzen und dem Tragenden ein sicheres Gefühl geben. Was bei manchen Leuten nur wenige Wochen dauert, ist für Marcel ein ständiger Prozess. „Es hat mehrere Jahre gedauert, bis ich die richtige Konfiguration gefunden habe“, meint Marcel, während er in sein Equipment schlüpft. Damit Marcel immer ordentlich ausgerüstet ist, unterhält er Beziehungen zu verschiedenen Partnern und Sponsoren. Dadurch erhält er individuelle Hilfe, um sich weiter zu optimieren.
Nachdem der Gurt festgezurrt wurde, beginnt Birgit mit dem Anstieg. Sie klettert ohne Sicherung die Wand hoch, um das Sicherungsseil in Ösen entlang des Pfades einzuhängen. Es wird deutlich, dass Birgit bereits viele Jahre an den Wänden der Welt verbringt. Mit Elan und Leichtigkeit tritt sie von Griff zu Griff bis zur Spitze der Route. „Beim Klettern geht es weniger ums Ziehen, sondern ums Treten“, ruft sie aus 10 Metern Höhe die Wand hinunter. Auf dem Weg nach unten fragt sie Marcel, ob sie noch etwas ändern soll. Er will, dass sie das Seil aus einigen Ösen wieder aushängt, damit es ihm auf seiner Route nicht im Weg ist. „Bei Marcel schauen wir immer, wie es am besten für ihn passt“, erklärt die Trainerin, als sie langsam wieder den Boden erreicht.
Jetzt ist Marcel dran, die Wand zu erklimmen. Mit einem Achterknoten sichert Birgit Marcel am Brustgurt. Bevor es losgeht, checken beide gegenseitig ihre Sicherung. „Das ist der Tauchercheck“, klärt Birgit auf. Auch wenn Ehrwald rund 994 Meter über dem Meeresspiegel liegt, gehört dieser Check zum absoluten Pflichtprogramm beim Klettern. Sicher*innen und Kletter*innen müssen ein Team sein. „Wer sichert, muss sich bewusstwerden, dass er viel Verantwortung übernimmt“, betont Birgit.
Marcel hat sich die blaue Route ausgesucht. Eine einfachere Strecke, wie er behauptet. Behutsam setzt er einen Fuß auf den ersten Griff und arbeitet sich Schritt für Schritt nach oben. Sein Blick wandert von seinen Händen zu seinen Füßen, jeder Schritt ist gut überlegt. Die Unterschiede zu Birgit sind deutlich: Während sie weiter weg liegende Griffe mit einem großen Schritt erreichen kann, muss der Parasportler einen anderen Weg finden. Sein Geheimnis ist die Dynamik: Er benutzt Schwung, um entfernte Griffe zu erreichen. Sollte Marcel Schwierigkeiten haben, gibt Birgit von unten Tipps. Sie hält das Sicherungsseil locker in der Hand und lässt es laufen, ohne die Spannung herauszunehmen. Gleichzeitig zieht sie nicht dran, damit Marcel komplett von alleine in die Höhe klettert. „Ich versuche, ihn nur zu sichern und nicht zu ziehen. Das darf ich im Wettkampf ja auch nicht“, sagt sie dazu.
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Der Weg nach oben
Damit hat Marcel bereits viele Erfahrungen gemacht. Seit 2016 ist er regelmäßig auf der kompetitiven Bühne unterwegs. Eines seiner größten Highlights war der Weltcup 2018 im französischen Briancon, bei dem er als Teil des deutschen Nationalkaders mitgereist ist.
Die Weltcups werden von der International Federation of Sports Climbing (IFSC) organisiert und finden parallel zu den Weltmeisterschaften der non-para-Athlet*innen statt. Dadurch soll dem Paraclimbing eine größere Bühne geboten werden.
Im Wettkampfklettern wird beim Paraclimbing hauptsächlich in der Lead-Variante geklettert. Hierbei müssen die Athlet*innen eine unbekannte Strecke so lange klettern, bis sie fallen. Der oder die Athlet*in mit dem höchstgelegenen Griff gewinnt den Wettkampf.
Die Kletter*innen werden im Sinne der Chancengleichheit in verschiedene Kategorien unterteilt. Diese Kategorien orientieren sich an der Art und dem Grad der Behinderung. Blinde können nicht gegen amputierte Athlet*innen antreten, die Fairness ist dadurch garantiert.
Wenige Meter vor der Spitze legt Marcel eine kurze Pause ein. Die Stelle eignet sich gut dafür, da der Kletterer auf einer Wand an der rechten Seite seine Beine besser abstützen kann. Pausen sind wichtig, um sich zu ordnen und in Ruhe die verbleibende Strecke zu studieren. Die restlichen Meter schafft Marcel ohne Probleme. Mit einer dynamischen Bewegung schwingt er sich von der Wand und klettert bis zum letzten blauen Griff. Unter ihm erstreckt sich der Sicherheitsboden der Kletterhalle. „Super!“, ruft Birgit Marcel hinauf. Danach lässt sie Marcel sicher hinunter.
Das Problem der Verletzungen
Dieser kurze Aufstieg bedeutete für Marcel erst das zweite Mal Klettern nach einer langen Verletzungspause. Er rutschte an der Kletterwand ab und wollte sich trotz Sicherung nicht fallen lassen. Stattdessen klammerte er sich an einen Griff und zog sich eine Handverletzung zu. „Beim nächsten Mal fällst du und rettest dich nicht“, ermahnt Birgit den ehrgeizigen Kletterer.
Verletzungen stellen für Marcel eine weitaus ernstere Angelegenheit als für nicht-behinderte Sportler*innen dar. Durch die seltene Erkrankung ist häufig unklar, ob die Heilungsprozesse im Körper normal ablaufen. Die Einschränkungen im Alltag erschweren dies zusätzlich. Im Jahr 2019 bekam Marcel das besonders heftig zu spüren: Auf einer Skiwanderung kippte Marcel vor dem Gipfel um brach sich das Schienbein. Ein Jahr lang war nicht an Training zu denken. „In solchen Zeiten wird wieder deutlich, wie sehr sich die Behinderung auf das Leben auswirkt“, blickt Marcel zurück. Mit einem Lächeln erinnert er sich an seinen Einfallsreichtum zurück. Er konnte keinen normalen Krücken benutzen und musste sich anderweitig behelfen. Die Lösung waren Wanderstöcke, die er in Birkenstocks einfädelte.
Während viele Leute erst lange nachdenken, macht Marcel einfach.
Nach dem Kletterabenteuer und einer ordentlichen Portion Nudeln mit Pilzen beim Italiener geht Marcel in den Park. Ein Rasenmähroboter arbeitet eifrig daran, das Gras im Alpenpanorama zu stutzen. Auch Marcel ist fleißig und spannt eine Slackline zwischen zwei Bäumen. Durch eine Do-It-Yourself-Lösung in Kooperation mit einem Slackline-Hersteller kann er das Band komplett alleine spannen. Dann springt er auf, die Augen sind auf ein Ziel gerichtet und die Arme weit nach oben gestreckt. Während das Band leicht wackelt, setzt Marcel einen Fuß nach dem anderen nach vorne. Das Balancieren ist für ihn ein Ausgleich zum Klettern. „Wenn man erstmal ein paar Meter laufen kann, ist das Entspannung pur“, offenbart Marcel. Neben der Slackline versucht sich der 33-jährige auch an weiteren Sportarten. Zuletzt hat er Golf auf der nahegelegenen Anlage ausprobiert.
Am späten Nachmittag ruft für Marcel die Arbeit. Er packt die Slackline zusammen und fährt wieder Richtung Kletterhalle. Nach dieser Woche macht er erstmal Urlaub in Italien. „Vier Wochen Handy und Laptop aus und einfach abschalten“, so beschreibt Marcel seine Pläne. Die Erholung ist wichtig: Marcel will in Zukunft noch einige Hürden überklettern.