Der Energietank der Helden
„Flugbegleiter haben sowas von Recht”, sage ich zu einer Freundin, während wir durch den Wald stapfen. „Man muss sich erst die Atemmaske aufsetzen, um anderen helfen zu können.” Meine Freunde und ich leiden – wie viele – unter dem alltäglichen Heldendrang; dem Verlangen, möglichst vielen helfen zu wollen, Umarmungen auszugeben und zuzuhören. Wir kommen im Doppelpack mit einem Erste-Hilfe-Set für alle psychischen und anderen Notlagen. Zwar ist es nicht das Helfersyndrom, das meist in sozialen Berufen genannt wird, heftig kann so ein Heldendrang aber trotzdem auch in unserem Alltag sein.
Auf Spaziergängen reden meine Freundin und ich gerne über Gott und die Welt – und wie wir uns um andere sorgen und möglicherweise Freunden und Familie helfen können. So schön diese Eigenschaft auch ist, so schnell passiert es, dass man sich darüber hinaus selbst vergisst. Plötzlich werden die Helfer*innen hilflos. Sich wie ein erwachsener Superheld in seinem Batmobil in der Welt zu bewegen ist aufregend – bis der Sprit ausgeht (der auch noch sauteuer ist) und die Energie im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Leck aus dem Batmobil heraustropft. Da sollte der Energietank regelmäßig gecheckt werden.
Zusätzlich bricht mit dem Erwachsenwerden eine neue Zeit an, verbunden mit gesellschaftlichen Zwängen. Plötzlich bemühen sich alle, reif zu wirken, auszuziehen, zu lernen, wie man den Haushalt schmeißt und bitte nebenher wie kellnernde Akrobat*innen auf einem Seil Studium, Arbeit oder Ausbildung zu balancieren. Und das möglichst elegant, während man allen mit Rat und Tat zur Seite steht, Taschentücher verteilt, für kranke Freund*innen kocht und stets ein offenes Ohr bietet. Easy enough.
Im Gleichgewicht liegt die Kraft
Es fällt einem allzu leicht, sich auf die Probleme anderer zu konzentrieren, während sich die eigenen Sorgen wie Wäschehaufen in der Zimmerecke türmen. Hingegen fällt es vielen allzu schwer, zuzugeben, was sie wirklich belastet. Denn wir sind erwachsen, selbstständig und übrigens auch noch – und das sagen wir gerne stolz – emanzipiert. Hilfe? Nein, danke. Im Studium werden Studierende auf eigenständiges Arbeiten trainiert. In der Arbeitswelt wollen Angestellte selbst wissen, wie alles funktioniert. „Eigenständig und im Team arbeiten können” ist etwas, das das Motivationsschreiben aufwerten kann. Betonung liegt auf eigenständig, denn das bedeutet, dass wir Alles (auch Unangenehmes) allein meistern können. Der Helferdrang führt zu einem wahren Balanceakt. Hauptsache, die Sorgenberge fallen einem nicht auf den Kopf, während man alles balanciert.
Die wenigsten wollen in Gefahr geraten, dumm oder gar unbeholfen zu wirken. Oder wie ältere Nachbarn es sagen würden: „Dat ham wir schon vor dem Internet allein geschafft!” Der Devise nach fällt dann manch einer ganz eigenständig unter seinen Problemen begraben auf die Nase. Dabei ist es doch soviel einfacher, die Hände der Freunde zu ergreifen, sich bei Fragen an Kollegen zu wenden und die Sorgen auszuatmen. Und wenn das Flugzeug abstürzt, können wir uns erst selbst die Maske aufsetzen, bevor wir unseren Heldendrang an anderen ausleben können. Auf die Hilfe!
Eine weitere Folge meiner Kolumne „Spaziergangsthemen” findet ihr hier.