„Niemand fühlt sich so richtig wohl.“
Weiter, höher, knapper!
Der Wecker klingelt an diesem Tag früh. Schon beim Aufstehen freut sich die Turnerin Emilia Cottone des TSV Waldenbuch 1891 e.V. auf ihren heutigen Wettkampftag. Als sie jedoch ihren Turnanzug einpackt, gehen ihr wieder die bekannten Gedanken durch den Kopf: „Welche Unterwäsche kann ich tragen, damit sie beim Turnen nicht unter dem Anzug hervorschaut?“, „Vielleicht sollte ich mich noch rasieren, damit es gut aussieht“. Sie ärgert sich, dass sie sich schon wieder über solche unwichtigen Dinge Gedanken machen muss und sich nicht auf den eigentlichen Wettkampf fokussieren kann.
Die Wettkampfbekleidung löst nicht nur bei Emilia Unbehagen aus. „Niemand fühlt sich so richtig wohl“, erzählt sie über ihre Turnkolleginnen und sich selbst. Auch Spitzenturnerin Sarah Voss kennt dieses Gefühl. Deshalb setzte sie bei den Qualifikationen der Olympischen Spiele von Tokio 2021 mit ihrem knöchellangen Anzug ein Zeichen gegen Sexismus. Dabei ging es ihr nicht nur um ihr eigenes Wohlbefinden, sondern vor allem um die Selbstbestimmung bei der Kleiderwahl. Auf ihrem Instagram Profil ruft sie andere Turnerinnen dazu auf, das zu tragen, „worin wir uns gerade am wohlsten fühlen!“. Ihre Teamkolleginnen folgten ihrem Beispiel kurz darauf.
Auch Emilia unterstützt den ersten Schritt der deutschen Turnerinnen. Es sei wichtig, „jungen Mädchen zu zeigen, dass man auch in langen Turnanzügen gut aussieht und anmutig turnen kann“. Zwar erlauben die aktuellen Regelungen zur Wettkampfbekleidung das Tragen von langen Anzügen, jedoch stellte Emilia während ihren Lehrgängen zur Kampfrichterin fest, dass viele junge Turnerinnen gar nicht wissen, dass dies erlaubt ist. Sie erfuhren davon teilweise erst durch das Auftreten der deutschen Nationalturnerinnen in ihren langen Wettkampfanzügen 2021.
Emilia turnt, wie auch ihre Vereinskolleginnen, bei Wettkämpfen immer noch mit den klassisch-kurzen Anzügen. Sie berichtet über weitere Gründe, warum viele Turnerinnen die aktuellen Regelungen noch nicht wahrnehmen. Unter anderem liege es am fehlenden Mut, den ersten Schritt zu machen.
Anderer Sport, selbes Problem
Doch nicht nur im Turnen gibt es Diskussionen über die bestehenden Kleiderordnungen. Schon 2018 setzte Tennisspielerin Serena Williams ein Zeichen für mehr Selbstbestimmung in der Kleiderwahl. Bei den French Open trat sie nach der Geburt ihrer Tochter aus gesundheitlichen Gründen mit einem schwarzen Catsuit an. Außerdem sprach sie auf ihrem Instagram Profil zu allen Müttern: „Wenn ich das kann, dann könnt ihr das auch!“ Der damalige Präsident des Französischen Tennis Verbands (FFT) Bernard Guidicelli verurteilte das Auftreten und forderte strengere Regeln. Serena Williams durfte daraufhin nicht mehr im Catsuit an den weiteren Wettkämpfen teilnehmen.
Auch die norwegischen Beachhandballerinnen setzten sich gegen die bestehenden Kleidungsverordnungen zur Wehr und spielten 2021 bei den Europameisterschaften nicht in den üblich knappen Bikinis, sondern in längeren Shorts. Das Team wurde für den Verstoß gegen die Kleiderordnung vom Europäischen Handballverband EHF mit einer Geldbuße in Höhe von 1.500 Euro belegt. Der norwegische Handballverband hat die Strafe übernommen und stellte sich auch öffentlich hinter das Frauenteam. Auf dem Twitter-Account postete der Verband „NOK ER NOK!“, was übersetzt „GENUG IST GENUG!“ bedeutet.
Sowohl der Fall der norwegischen Beachhandballerinnen als auch der von Serena Williams sorgte für großes Aufsehen in den Medien und löste hohen Druck auf die Sportverbände aus. So beschloss die Women’s Tennis Association (WTA) noch im selben Jahr, dass „Leggings und halb-Oberschenkel-lange Kompressions-Hosen ohne Rock, Hose oder Kleid“ in Zukunft erlaubt seien.
Auch die Internationale Handballföderation IHF reagierte auf den Boykott der Norwegerinnen und änderte die bestehenden Wettkampfbestimmungen. Diese erlauben es den Beachhandballerinnen seit 1. Januar 2022 kurze, enganliegenden Hosen zu tragen.
Keine wirkliche Gleichberechtigung
Die Regeländerungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, doch bedeuten sie echte Gleichberechtigung? Bereits im Regelwerk für internationale Turnwettkämpfe, dem Code de Pointage (CdP), sind die Unterschiede in der Kleiderordnung der Männer und Frauen festzustellen. Dieser beinhaltet bei den Frauen eine detaillierte Beschreibung der Anzüge, wie zum Beispiel, dass der Halsausschnitt „nicht über die Mitte des Brustbeins und die untere Linie der Schulterblätter hinausgehen“ darf. Bei den Männern fallen die Vorschriften sehr viel kürzer aus: Vorgeschrieben ist lediglich das Tragen eines Trikots und je nach Gerät eine lange oder kurze Hose.
Auch die geänderten Vorschriften im Frauenhandball fordern kurze, enganliegende Hosen, während Männer auch mit weiten Shorts antreten dürfen.
Emilia wünscht sich ebenfalls mehr Gleichberechtigung in den Kleiderordnungen. „Jeder soll so turnen dürfen, wie man sich wohlfühlt und wenn man dies nicht in kurzen Anzügen tut, dann sollte man auch ohne Vorurteile Anzüge mit langen Beinen tragen dürfen“, erzählt sie.
Das Ganze sollte „mehr thematisiert werden, schon von klein auf. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass Turnerinnen mit langen Anzügen nicht mehr komisch angeschaut werden und das Tragen dieser Anzüge für uns zur Normalität wird.“ Nicht nur in ihrer Position als Turnerin, sondern auch als Kampfrichterin und Jugendtrainerin, möchte Emilia sich in Zukunft dafür einsetzten.