Trauma

Wenn die Flucht zur Nahtoderfahrung wird

Alireza Govahi lebt seit 2015 in Deutschland. Die deutsche Staatsbürgerschaft kann er dennoch erst 2028 beantragen.
21. Juni 2023
2015 sind fast eine Million Menschen nach Deutschland geflüchtet. Einer von ihnen war Alireza Govahi. Im Interview spricht er darüber, wie er während der Flucht in einem Van fast erstickt wäre und wie schwer es ist, in einem fremden Land neu anzufangen.

Alireza Govahi, ein Freund von mir, lebt seit mehr als sieben Jahren in Deutschland. Wenn er nach seiner Herkunft gefragt wird, fällt ihm die Antwort nicht leicht. Geboren wurde er im Iran, mit 13 Jahren flüchtete er. Eine richtige Heimat war das Land für ihn nicht.

Warum ist deine Familie aus dem Iran geflohen?

Da steckt eine lange Geschichte dahinter. Die kurze Version ist: Meine Eltern sind gebürtige Iraker, haben aber iranische Wurzeln. Meines Wissens nach wollte die damalige Regierung im Irak einen Krieg gegen den Iran führen und sah meine Eltern als politische Gefahr an. Ihnen wurde das Vermögen genommen und sie wurden in den Iran abgeschoben. Dort lebten sie sehr lange, hatten aber keine Rechte, keinen richtigen Ausweis und wurden oft aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert. Das war sehr frustrierend. Ich wurde 2002 im Iran geboren, trotzdem wussten die Nachbarn und jeder in unserem Umfeld, dass wir aus dem Irak kamen.

Dann wart ihr sozusagen Iraner*innen im Irak und Iraker*innen im Iran?

Genau richtig. Wir wurden deswegen im Iran auch oft angefeindet, mit Steinen beworfen und unser Haus wurde bemalt.

1980 erklärte der damalige irakische Diktator Saddam Hussein dem Iran den Krieg. Das war der Beginn des ersten Golfkriegs, der 1988 ohne Sieger mit einem Waffenstillstand endete. Dieser kostete rund einer Million Menschen, darunter auch vielen Zivilisten das Leben. Gründe für den Iran-Irak-Krieg waren territoriale, sowie religiöse Konflikte. 

Dann war die Beziehung zwischen Iraner*innen und Iraker*innen sehr angespannt?

Ja, das ist auch heute noch so. Die meisten Iraner sind Perser und die Iraker Araber. Wenn man jemanden im Iran als Araber bezeichnet, ist das abwertend.

Wie lief eure Flucht nach Deutschland ab?

Mein Vater ist schon früher geflüchtet, um den Weg und die Sicherheit der Flucht zu überprüfen. Als es für uns losging, war ich 13 Jahre und meine Schwester zehn Jahre alt. Die Flucht dauerte insgesamt 24 Tage. Wir sind vom Iran über die Grenze in die Türkei geflüchtet. Dort gab es sogenannte illegale „Schlepper“, die Menschengruppen zusammengeführt haben. Damals gab es in der Türkei politisch große Unruhen und die türkische Polizei verfolgte alle Menschen, die über das Land flüchten wollten. Uns wurde nur gesagt, dass wir in einem bestimmten Park warten sollten. Beim ersten Mal mussten wir mit Gepäck vor der Polizei fliehen. Dann kam ein Van, in den wir alle rein mussten. Für uns war das total beängstigend, weil wir nicht wussten, ob das alles vertrauenswürdig ist. 

Wir wurden dann mitten im Wald abgesetzt und sollten dort erst mal bleiben. Wir hatten kein Internet und keiner kontaktierte uns in dieser Zeit. Irgendwann wurde das Wasser knapp und wir mussten aus einem Fluss trinken. Das war nochmal so ein Horror, weil wir echt dachten, man würde uns dort einfach zurücklassen. Nach drei Tagen ging es aber weiter und wir wurden ans Meer gefahren. Mit einem Boot brachte man uns über das Mittelmeer nach Griechenland. Das Boot hatte die Kapazität, um 15 Menschen mitzunehmen, wir waren aber 30 Leute. Man legte die Koffer auf die Kinder, um Platz zu sparen. Von Griechenland aus ging es dann mit einem Bus nach Deutschland. 

Waren bestimmte Erlebnisse der Flucht traumatisch für dich?

Ja, die Fahrt in diesem Van war für mich eine Nahtoderfahrung. Uns wurde gesagt, dass wir alle ganz schnell in das Auto müssen, egal wie viele Menschen es sind. Darin war es so voll, dass ich mit dem Kopf an die Wand gedrückt wurde und kaum Luft bekam. Als meine Mum gesehen hatte, dass ich nicht mehr richtig atmen konnte, hatte sie auch große Angst um mich. 

Merkst du von den traumatischen Erfahrungen heute noch etwas?

Ja, ich habe immer wieder Szenarien, wo ich mich an diese Situation zurückerinnere und mich auf einmal richtig unwohl fühle.

Wie ging es für euch in Deutschland weiter?

Als wir nach Deutschland kamen, hatten wir keine Möglichkeit, den Zielort selbst zu bestimmen. Man wird dann mit Bussen abgeholt und in einer Halle mit vielen anderen Geflüchteten untergebracht. In den ersten drei Monaten musste man erst einmal schauen, wie man klar kommt. Man kann ja weder die Sprache, noch kennt man die Umgebung und Geld hat man auch nicht wirklich. Das hat sich aber alles geändert, nachdem wir in ein kleineres Asylheim zugeteilt wurden. Wir sind dann in Forbach im Schwarzwald gelandet. Dort hatten wir mehr Platz und das Leben hat langsam an Form angenommen.

Wie ging es dir in der ersten Zeit? Warst du verängstigt nach der Flucht?

Ich weiß nicht, ob es Selbstschutz war, dass ich mich am Anfang nicht damit auseinandergesetzt habe. Ich habe in dieser Zeit erst einmal vor mich hingelebt. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie sich alles ändern wird. Traurig war ich nicht darüber, dass wir es schwer hatten. Man konnte nichts an der Situation ändern, meine Eltern waren ja genauso machtlos.

Hast du deine Heimat und deine alten Freunde denn gar nicht vermisst?

Doch, ich glaube, dass ich sie schon vermisst habe. Aber ich war damals in so einem Überlebensmodus. Ich war eher damit beschäftigt, die Situation zu verstehen. 

Hast du dich später noch einmal mit der Flucht auseinandergesetzt, oder hast du sie verdrängt gelassen?

Das ist ein interessantes Thema. Da merke ich auch den Kontrast zu meiner Schwester, da sie wegen unserer Flucht viel emotionaler war als ich. Ich denke zwar immer wieder darüber nach, versuche aber, mich von der Flucht emotional zu distanzieren. Ich möchte nicht irgendetwas in mir auslösen, was dazu führt, dass ich plötzlich mein jetziges Leben nicht mehr bewältigen kann. Dafür habe ich nicht die Zeit und auch nicht den Willen.

Du kamst als Geflüchteter direkt auf das Gymnasium, warum?

Wir hatten im Asylheim Sozialarbeiter, die sich darum kümmerten, dass wir in die Schule kommen. Bei mir war das so, dass ich aufgrund meines Alters nicht mehr in die Grundschule gehen konnte. Die wussten dann einfach nicht, wohin mit mir. Deshalb musste ich auch erstmal sechs Monate in Forbach ohne Schule weiterleben. Das Gymnasium in Gernsbach hatte sich damals dazu entschieden, eine Vorbereitungsklasse für Geflüchtete zu starten. Dort ging ich dann mit 14 in die Schule.

Kamst du in der Schule zurecht?

Ich muss ganz ehrlich sagen, die ersten Tage konnte ich gerade einmal Ja/Nein-Fragen auf Deutsch beantworten. Das Gute war, dass ich Englisch konnte. Das hat für mich alles einfacher gemacht. Ich war einer der wenigen Geflüchteten, der sich durch die englische Sprache mit den Lehrern verständigen konnte. Dadurch wurde ich zum Dolmetscher der anderen Geflüchteten und habe somit direkt Verantwortung übernommen. Eigentlich war ich ein schüchterner Junge, aber in der Schule und im Asylheim habe ich immer versucht, anderen Menschen zu helfen. Am Anfang hatte ich kaum Kontakt zu den deutschen Schülern. Mit den Jahren wurde das langsam besser. 

Woran lag es, dass der Kontakt zu deutschen Mitschüler*innen so schwierig war?

Ich denke, das war eine Kombination aus allem Möglichen. Weder ich, noch die anderen wussten, wie man aufeinander zugehen sollte. Auch die Sprachbarriere war schwierig. Vielleicht hat auch die Angst vor Fremden oder anders aussehenden Menschen eine Rolle gespielt.

Du hast dein Abitur trotz der Schwierigkeiten geschafft, wie kam das?

Ich habe relativ früh gemerkt, dass ich hier nicht einfach nur bin, weil es nicht anders geht, sondern dass ich in Deutschland eine Zukunft habe. Mir wurde oft gesagt, dass ich viel Bemerkenswertes erreicht habe im Leben. Ich selbst habe das in der Zeit nie so wahrgenommen. Ich glaube, ich hatte als Kind immer Hoffnung, dass alles besser wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern hatte ich zuhause viel Unterstützung. Meine Eltern haben mir aber nie Druck gemacht, dass ich etwas schaffen muss. Das kam am Ende eher von mir selbst.

Wie geht es deiner Familie heute in Deutschland, habt ihr eine Chance auf eine deutsche Staatsbürgerschaft?

Das Thema mit der deutschen Einbürgerung ist ziemlich kompliziert. Bei uns hat der Asylantrag fünf Jahre gedauert und wurde schließlich abgelehnt. Unsere Gründe für die Flucht haben nicht ausgereicht, um als Asylberechtigte vor Gericht anerkannt zu werden. Dementsprechend haben wir bis heute nur eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Wahrscheinlich darf ich die deutsche Staatsbürgerschaft ab 2028 beantragen. 

Meine Eltern hatten unter anderem wegen gesundheitlichen Problemen nach der Flucht Schwierigkeiten, regelmäßig in Sprachkurse zu gehen und sich zu integrieren. Sie wollen jetzt in die Umgebung Stuttgarts ziehen, damit sie mehr Möglichkeiten haben. Dort hat mein Vater auch eine Arbeitsstelle.

Mittlerweile studierst du Englisch und Philosophie auf Lehramt in Stuttgart, warum genau diese Fächer?

Englisch konnte ich ja schon von Anfang an gut. Das mit der Philosophie möchte ich jetzt nicht nur auf die Flucht schieben. Ich denke aber, dass es zum Teil daran liegt, dass ich keinen typischen Lebenslauf habe. Ich habe schon sehr viel erlebt, was mich dazu gebracht hat, das Leben auch mal in Frage zu stellen. Ich weiß noch, wie ich schon mit 15 mit meinem besten Freund in der Mensa saß und über viele tiefgründige Themen gesprochen habe. Ich habe mich eben schon sehr früh bei allem nach dem „Warum” gefragt.