„Nur wenn du Spaß daran hast, bist du ein richtiger Tänzer.“
Eine Geschichte für zwei

Ein schwarzer Vorhang geht auf. Dahinter Kücheninsel, Tisch und Sofa – eine typische moderne Wohnung. Doch mein Blick bleibt an der hinteren Wand hängen. Ein grauer Kamin ist darin verbaut und darauf stehen sie. Die Pokale. Ich schaue mich um und überall in der Wohnung stehen Pokale, große Pokale. Aus Gold, Glas und Stein. Mit Diamanten besetzt. Von Designern entworfen. Marius Andrei Balan und Kristina Moshenska haben gemeinsam viermal die Weltmeisterschaft in den lateinamerikanischen Tänzen gewonnen.
Vor zwei Monaten begann ich bei den beiden zu trainieren. Als ich sie das erste Mal traf, kam Kristina mit breitem Grinsen auf mich zu. Ihre kurzen, orangenen Haare peitschten durch die Luft bei jeder Drehung, die sie mir vormachte. Ich schaue ihr ins Gesicht – sie ist vielleicht 1,65 Meter groß. Sie bewegt ihren schlanken Körper, zieht ihren Rumpf in die Länge und plötzlich wirkt sie nicht mehr ganz so klein. Im selben Tanzsaal, zur selben Zeit, unterrichtet auch Marius. Man erkennt ihn sofort – wahrscheinlich wegen seiner Körpergröße. Seit zehn Jahren tanzen die beiden zusammen. Nicht nur auf der Tanzfläche, sondern auch im Leben sind sie ein Paar.
Lateinamerikanische Tänze
Im Turniertanz gibt es verschiedene Disziplinen – eine davon: Latein. Dazu gehören fünf Tänze: Samba, Chachacha, Rumba, Paso Doble und Jive.
Die Samba stammt aus Brasilien, Chachacha und Rumba aus Kuba. Alle drei leben vom Rhythmus. Der Paso Doble erzählt einen Stierkampf – seine Wurzeln liegen in Spanien. Der Jive wiederum stammt aus den USA und hat sich aus dem Boogie-Woogie entwickelt.
Mehr als Perfektion
Im Tanzsport ist es wichtig technisch gut aufgestellt zu sein, nicht nur um Ergebnisse zu erzielen, sondern auch, um die Balance zu halten oder Verletzungen zu verhindern. Viel wichtiger sei es den beiden jedoch etwas zu fühlen, während des Tanzes. Ihr Lieblingsgefühl? Spaß! Marius erklärt: „Nur wenn du Spaß daran hast, bist du ein richtiger Tänzer“. Durch die Melodie zeigt man eine Geschichte, doch durch den Rhythmus spürt man ein Gefühl.
Während des Tanzens erzählen die beiden Geschichten, ganz ohne Worte. Vor allem die Rumba ist ein sehr emotionaler Tanz. Ursprünglich kommt der Tanz aus Kuba und beschreibt die dort herrschende Armut. Im Turniersport wird der Tanz anders interpretiert. Marius und Kristina vertanzen in der Rumba eine Liebesgeschichte. Seine Hand wandert vorsichtig zu Kristinas Gesicht. Er streift ihre Wange, dann nimmt er ihre Hand. Sie schaut hoch. Direkt in seine Augen. Sie lächelt ihn an und beginnt zu tanzen. Dadurch möchten die beiden Liebe ausdrücken. Mithilfe bestimmter Bewegungen kann man emotionale Zustände vermitteln. Tanzen sei eine Sprache sagt Marius. Nur mit weniger Zeit – deshalb müssen Aussagen kurz und präzise sein.
Ein Gefühl, das noch viel schöner ist
Mit 22 Jahren gewinnt Kristina zum ersten Mal die Weltmeisterschaft. Sie steht auf dem Podest – der Pokal in der Hand, das Ziel erreicht. Ihre einzige Frage in diesem Moment: „Was jetzt?“
Beide bestätigen, Erfolge sind schön, aber der Moment des Sieges dauert selbst bei einer Weltmeisterschaft nur wenige Minuten an. Danach sei es vorbei und man müsse sich ein neues Ziel suchen. Deshalb sagen sie, sollte man den Prozess genießen. Es gehe um die Liebe zur Bewegung – zur Musik, zum Miteinander.
Sie erzählen von ihrem letzten Turnier in England, ihrer Meinung nach das schönste Turnier, das sie je erlebt haben. Kristina steht auf der Tanzfläche. Das Orchester beginnt zu spielen. Der erste Tanz des Abends startet. Anschließend verbeugt sie sich und blickt auf ihre Arme, die von Gänsehaut überzogen sind.
Vom Anfang...
Kristinas Mutter schickt sie mit vier Jahren in eine Tanzschule, ohne zu wissen, dass an diesem Tag die Geschichte einer siebenfachen Weltmeisterin beginnt. Ihre Eltern haben nie besondere Erfolge erwartet: „Sie wollten immer nur, dass ich glücklich bin“, erzählt Kristina stolz. Mit 16 Jahren verlässt sie die Ukraine, zieht nach Russland. Mit 19 weiter nach Italien. Fünf Jahre später – drei Weltmeistertitel in der Tasche – geht sie nach Deutschland, um mit Marius zu tanzen.
Marius beginnt seine Tanzkarriere ebenfalls in jungen Jahren. Es sind die 90er – MTV, Boybands und Michael Jackson sind überall zu sehen. Das inspiriert auch den siebenjährigen Marius zum Tanzen. Auf die Frage, ob es schwierig war als Junge, das Tanzen dem Fußball vorzuziehen, lacht er nur. Durch die Sicherheit und das Selbstbewusstsein, das ihm seine Eltern mitgegeben haben, habe er sich nie für seine Entscheidung geschämt. Mit diesem Selbstbewusstsein zieht er acht Jahre später allein nach Deutschland, seine Eltern bleiben in Rumänien. In Deutschland hat sein Vorbild Franco Formica getanzt, weshalb er unbedingt hier trainieren wollte.
Später wollte auch Kristina bei Franco trainieren. Ein Grund, weshalb sie sich 2015 für Marius entschied. Vor allem aber hat ihr Marius Charakter gefallen. Sie beschreibt, wie einfühlsam er seine damalige Partnerin behandelt hat. „Er hat sie immer gehalten und geküsst. Ich habe ihn angeschaut und mir gedacht: Ich will mit diesem Jungen tanzen.“
...bis zum Schluss
Die meisten beenden ihre Tanzkarriere mit etwa 35 Jahren, ähnlich wie in vielen anderen Sportarten. Marius und Kristina sind inzwischen 34 Jahre alt, ans Aufhören denken sie aber noch nicht. Wenn es jedoch so weit ist, können wir uns ziemlich sicher sein, dass eines bleibt: ihre Liebe zum Tanzen. Für die beiden hätte es nie eine andere Option gegeben. Tanzen war von Anfang an das, was sie ihr Leben lang machen wollen. Dafür haben sie viel geopfert, aber auch viel erreicht. Sie tanzen die Tänze nicht nur, sie leben sie. Marius und Kristina erzählen durch ihre Bewegungen keine einstudierte Geschichte, sie erzählen, was sie in diesem Moment fühlen. Sie erzählen, wer sie sind.
*Hinweis: Die Redakteurin hat eine persönliche Beziehung zu den Protagonisten.