Wir sind anders

Hinweis
Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers zum Thema Subkultur in Stuttgart.
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Der Begriff Subkultur entstand ursprünglich in den USA, als Forschende in den 1940ern kriminelle Jugendbanden untersuchten. Daraus entwickelte sich die „Subculture Theory“, welche die Unterschiede von Subkulturen zur Gesamtgesellschaft negativ hervorhebt. Etwas anders sehen das die „Cultural Studies“, die in den 1970er Jahren in England entstanden sind. Im Gegensatz zur amerikanischen Forschung, welche sich auf die Mittelschicht fokussierte, beschäftigten sie sich mit Subkulturen der Arbeiterklasse. Der Begriff wird hier, anders als bei der „Subculture Theory“, nicht negativ verwendet. Er beschreibt die Abgrenzung von Subkulturen durch spezielle Merkmale wie Kleidung, Musik oder Haltung.
Ulf Wuggenig ist Soziologe an der Universität Lüneburg. Als die Subkulturforschung in den 1990ern mehr Aufmerksamkeit in Deutschland erlangte, war er bereits in der Forschung tätig. Wuggenig erlebte nicht nur die Entwicklung der Subkulturforschung, sondern auch die Entstehung einzelner Subkulturen, wie die Hippie- und Punkszene. Er erklärt, dass der Begriff Subkultur interpretativ offen sei – von engen bis zu weiten Definitionen. Am wichtigsten sei für ihn allerdings die Unterscheidung – was genau dazu zählt, ist von der persönlichen Perspektive abhängig. Letztendlich leben Subkulturen davon, dass die Mitglieder sich über gemeinsame Interessen und Einstellungen identifizieren. Das können beispielsweise Kleidung, politische Einstellung, kulturelle Traditionen oder auch Hobbies sein. Subkulturen bilden einen Ort der Identität. Auch in Stuttgart gibt es solche Orte, die Menschen und ihre Interessen vereinen.
Anfänge: Jugend zwischen Protest und Provokation
Wuggenig sieht die „Halbstarken“ als Beginn von Subkulturen in Deutschland: Männliche Jugendgruppen der 1950er, deren Markenzeichen Lederjacken, Bluejeans und vor allem ihr provokatives Auftreten in der Öffentlichkeit waren. Sie gehörten zur Nachkriegsgeneration – geprägt von Kriegstrauma, materieller Not und Autorität. Freiheitsdrang und Antiautorität bestimmten ihre Haltung, denn sie wollten sich bewusst von Normen abgrenzen. Dieser Wunsch spiegelte sich in der Begeisterung für amerikanische Trends wie Rock’n’Roll oder Hollywoodfilme wider. Schnell entstand ein, von diesen Trends geprägtes Männerbild, das sich vom disziplinierten deutschen Nachkriegsideal abgrenzte. Die „Halbstarken“ waren also eine Form von männlicher Protestkultur. Kulturwissenschaftler Kasper Maase analysiert in einem Artikel, wie Jugendkulturen neue Werte und Sichtweisen hervorgebracht haben. Dabei bezeichnet er die Halbstarken als „Bürgerschreck Nr. 1“, also Jugendliche, die durch ihr rebellisches Auftreten bewusst die gesellschaftlichen Normen missachteten und so Entsetzen in der älteren Generation auslösten. Die „Halbstarken“ ebneten somit den Weg für viele Subkulturen, die als Protestform entstanden.
In den Sechzigern prägten Bands wie die Beatles die Einstellung vieler junger Menschen. Ihre Musik sorgte für eine offenere Haltung gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen. Klamotten wurden lockerer und die Haare länger. Die neue Generation legte den Fokus auf Selbsterfahrung und Abgrenzung durch Lebensstil anstatt Konfrontation. Es entsteht eine der bekanntesten Subkulturen: die Hippiebewegung. Sie lehnten die damaligen Gesellschaftsnormen gezielt ab und forderten Veränderungen bei Themen wie Konsum, Sexualmoral und Frieden. Auch die „Gammler“ kehrten sich von der Konsumgesellschaft und ihren Leistungsprinzipien ab. Im Vergleich zu den Hippies wollten sie keine aktiven Veränderungen, sondern nur provozieren. Sie galten als Aussteiger, die durch ihr „ungepflegtes“ Aussehen, Arbeitsverweigerung und Ablehnung des routinierten Lebens bewusst gegen gesellschaftliche Standards protestierten. Sie verfolgten ähnliche Ziele wie die Hippies, machten diese jedoch nie wirklich klar. Während einige Experten die zwei Subkulturen klar voneinander trennen, wie zum Beispiel Soziologe Walter Hollstein, welcher die Hippies als radikalere Form der Gammler bezeichnet, sieht Wuggenig beide schlicht als eine Gegenkultur, die durch Lebensstil protestiert.
Subkultur oder Trend
In den späten 1970er-Jahren folgte die Punkbewegung. Kulturwissenschaftler Dieter Rink schreibt in einem Fachartikel über ihr bewusstes Regelbrechen und ihre provokante Kleidung – ursprünglicher Ausdruck politischen Protests, der aber bald zum Trend wurde. Ihr Modestil wurde kommerzialisiert, ein hervorragendes Beispiel für den Wandel vom Widerstand zum Konsum. In Bezug dazu betont Wuggenig besonders eine Modedesignerin. „Da ist Vivienne Westwood gewesen, die Modedame. Weil sie die Fashion-Welt mit der Arbeiterjugend verband, erhielt das eine große Sichtbarkeit.“ Sie machte die Ästhetik einer Subkultur, die sich ursprünglich gegen den Mainstream richtete, für die Allgemeinheit zugänglich. Diese Kommerzialisierung beobachtet Wuggenig heutzutage immer häufiger, zum Beispiel in der Graffiti-Szene. Wenn Firmen wie Adidas Graffiti-Stil übernehmen, gehe der ursprüngliche Protestcharakter verloren, weil die Abgrenzung zur Gesellschaft verschwimmt. „Normalerweise ist das etwas Illegales, was Anarchie und Freiheit signifiziert. Aber wenn das dann kommerziell beauftragt wird, dann geht diese Subkultur zugrunde.“ Es scheint schwierig, Subkulturen zu erhalten, da sie immer häufiger vom Mainstream übernommen werden und sich ihre Interessen nicht mehr von denen der Mehrheit unterscheiden. Diese Subkulturen lösen sich dann in der Mehrheit auf. Doch die Kommerzialisierung ist nicht das einzige Problem mit dem Subkulturen kämpfen müssen. Manche werden gar nicht erst beachtet und müssen sich ihren Raum erkämpfen.
Ähnlich wie die Punks führten auch die „Hausbesetzer“ einen rebellischen Lebensstil. Sie besetzten leerstehende Häuser, um staatliche Regeln bewusst zu brechen und alternative Lebensräume zu schaffen. Sie wollten der Kontrolle von Staat, Eigentümer*innen und konservativen Meinungen entkommen. Geisteswissenschaftler Malte Fischer setzt sich in einem wissenschaftlichen Artikel mit dem vielfältigen Spektrum der Hausbesetzerszene auseinander. Er unterscheidet vor allem zwei generelle Gruppen. Studierende und Angestellte, die stadtpolitisch motiviert waren, und jugendliche Randgruppen, die durch aggressives Verhalten, Drogenkonsum oder Arbeitsverweigerung die Gesellschaft radikaler ablehnten. Die „Hausbesetzer“ sind eine Subkultur, die sich über Lebensstil und Protest identifiziert, weniger über äußere Merkmale, wie etwa den Kleidungsstil bei Punks.
Gegen Ende der Achtzigerjahre kam die Technoszene auf – geprägt durch elektronische Musik, visuelle Exzesse und entgrenzte Raver-Kultur. Wuggenig beschreibt sie als „eine Form der Rebellion gegen die Alltagstristesse“, auch wenn sie zunächst unpolitisch wirke. Die Techno-Szene wirkt auf den ersten Blick also nicht wie eine Protestform. Die Partys scheinen Menschen zwar zu vereinen, jedoch keine tieferen Ziele zu verfolgen. Rink hingegen, der sich mit dem Wandel mehrerer Subkulturen in Deutschland beschäftigte, kritisiert den Konsumcharakter und nennt Techno eine „Spaßkultur“, die politische Werte nur als Fassade benutze. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob Subkulturen immer politisch sein müssen. US-Soziologe James Short, einer der ersten Subkulturtheoretiker, verstand Subkulturen als „spezielle Welten des Interesses und Identifikation“, nicht zwingend als politische Gruppen. Zwar waren die meisten Subkulturen bis zu diesem Zeitpunkt politisch motiviert, jedoch sollte das laut Definition kein Ausschlusskriterium sein.
So sind etwa Punks ein gutes Beispiel für politische Subkulturen, die sich bewusst gegen gesellschaftliche Normen und staatliche Kontrolle stellen. Aber auch die Gamer gelten als Subkultur, obwohl sie keine politische Motivation haben, sondern sich über ihr Interesse an Videospielen und der Freude am Spielen identifizieren.
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Subkulturen heute – zwischen Relevanz und Normalisierung
Neben den bekannten Beispielen existiert eine Vielzahl weiterer Subkulturen – viele davon unsichtbar oder kaum erforscht. Auch bleiben viele Subkulturen medial unbeachtet oder existieren nur in spezifischen Nischen. Wuggenig zufolge sind Subkulturen zeitlich begrenzte Phänomene, die jedoch zyklisch auftreten können. „Subkulturen entstehen und implodieren. Die Frage ist nur: Wie politisch relevant sind sie?“
Viele Subkulturen begannen als Protestformen mit dem Ziel, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Heute wird jedoch diskutiert, ob sie noch eine solche Rolle spielen. Rink spricht von einer „Normalisierung“: Subkulturen seien keine Randgruppen mehr, sondern teils gesellschaftlich akzeptiert oder sogar erwartet. Diese Akzeptanz nehme ihnen den Reiz und die Merkmale, die sie einst ausmachten. Auch Wuggenig beschreibt diese Veränderung: Die Gesellschaft sei abweichenden Lebensformen gegenüber offener geworden, wodurch echter Widerstand schwieriger sichtbar werde.
Subkulturen sind und bleiben wandelbar. Manche fokussieren sich auf den Protest, andere auf Lebensformen oder auch auf den Kleidungsstil. Subkultur bedeutet nicht mehr sich bewusst abzugrenzen, um damit etwas zu verändern. Subkultur bedeutet sich über seine persönlichen Interessen mit anderen zu identifizieren.