"Es ist gar nichts"
„Es ist gar nichts“, sagte er, bevor er seinen letzten Atemzug nahm und starb.
Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich verlor sein Leben durch den Einschlag einer tödlichen Kugel. Mit einer Pistole in der Hand zielte der serbische Attentäter direkt auf den damaligen Thronfolger des österreichisch-ungarischen Reichs. Es war nur ein kleiner Schuss, der zum Auslöser eines weltverändernden Massenmassakers wurde.
Aber „Es ist gar nichts“, betonte er, kurz bevor er seine Augen schloss und das Leben ihn verließ.
„Es ist gar nichts“, nur eine brennende Kugel unter der Bauchdecke eines Mannes, dessen Herz nur wenige Sekunden später stillstehen würde. „Es ist gar nichts“, nur ein durch diesen Mord ausgelöster Weltkrieg, der ganze Nationen entzweien wird. „Es ist gar nichts“, nur 17 Millionen Tote.
"Es ist gar nichts" dabei ist doch eigentlich so viel
Und trotzdem kann ich Franz Ferdinands Untertreibung gut verstehen. Ich bin schließlich Profi im Es-ist-gar-nichts-dabei-ist-doch-eigentlich-so-viel-Gerede. Damit bin ich wohl nicht die Einzige. Denn wenn wir mal ehrlich sind, hat doch jeder von uns schon einmal eine große Menge an „Viel“ hinter einem kleinen „Es ist gar nichts“ versteckt.
„Es ist gar nichts“, sagte Marie aus der achten Klasse, als sie das dritte Mal die Woche kein Essen mit in die Schule nahm, aus Angst, das Käsebrot, das ihre Mama ihr schmierte, könne ihre Figur ruinieren. Dann wäre sie nicht mehr schön, nicht mehr wertvoll genug. (Marie, du bist ganz wundervoll, bitte iss dein Käsebrot!).
„Es ist gar nichts“, sagte meine beste Freundin vor einigen Wochen, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie sich vermutlich immer noch abends in den Schlaf weint, weil die Trennung ihr eben doch mehr ausmacht, als sie nach außen hin zugeben kann.
„Es ist gar nichts“, sagte Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, bevor er seinen letzten Atemzug nahm und starb.
Warum machen wir es uns selbst damit so einfach?
„Es ist gar nichts?“ – Doch, es ist so viel. Ja, ich brauche Hilfe! Nein, mir geht es nicht gut! Ja, ich bin verletzt! Eine brennende Kugel steckt unter meiner Bauchdecke und scheint mein Herz jeden Moment zum Stillstand zu bringen. Vielleicht haben wir auch einfach noch nicht gelernt, mit Worten auszudrücken, wie viel in Wirklichkeit ist. Abzuwinken und „Es ist gar nichts“ zu sagen, scheint da der leichtere Weg zu sein. Gelegentlich führt der leichtere Weg allerdings zu brennenden Kugeln unter der Bauchdecke, Weltkriegen, die ganze Nationen entzweien und 17 Millionen Toten. Vielleicht müssen wir eine neue Sprache codieren, in der „Es ist gar nichts“ gleichbedeutend mit „Es ist so viel, dass ich einfach nicht mehr die passenden Worte finde“ wird.
Oder vielleicht müssen wir auch einfach anfangen, nicht mehr nur zuzuhören, sondern hinzuschauen. Vielleicht hätte ich dann früher bemerkt, dass Marie aus der achten Klasse seit Monaten irgendwie immer dünner aussieht. Dass ihr Gesicht an Farbe verloren hat und ihre sonst so typische Aufgewecktheit einer stumpfen Leere gewichen ist. Vielleicht hätte ich dann früher die dunklen Schatten in dem Gesicht meiner besten Freundin entdeckt oder ihr mechanisches Lachen als falsche Freude identifizieren können.
Denn vielleicht ist es ja tatsächlich unsere Aufgabe als Gesellschaft, anzufangen zu reden, zuzuhören und jedes noch so unscheinbare „Es ist gar nichts“ als brennende Kugel zu erkennen, die das Herz eines Menschen jeden Moment zum Stillstand bringen könnte.
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"Sagen Sie, dass was ich gesagt hätte"