Zwischen Sensationsgier und Unterhaltung
Ein Serienmörder in den USA tötete in den Achtziger- und Neunzigerjahren Anhalterinnen an Highway-Raststätten. „STERN CRIME“, ein Ableger des „STERN“-Magazins, berichtete 2019 über diesen Fall und betitelte den Beitrag mit „Killer on the Road“. Dazu zeigte das Magazin Fotos der Opfer, auf denen diese klar identifizierbar waren. Besonders fällt ein Bild eines minderjährigen Opfers auf, das der Täter kurz vor dessen Ermordung schoss. Ist es in Ordnung, dass dieses Material veröffentlicht wurde? Dass Privatpersonen so gezeigt und dadurch (wieder) in die Öffentlichkeit gerückt werden? Darf der Journalismus das?
Der Presserat, ein Organ der Selbstkontrolle im Journalismus, hat dazu eine klare Meinung: „Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines […] Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich.“ Er sprach gegen „STERN CRIME“ eine Rüge aus. Das ist nur einer von vielen Fällen, in dem die Persönlichkeit einer Privatperson nicht geschützt worden ist. Der Presserat ahndet allerdings auch andere Vergehen, die gegen den Pressekodex verstoßen.
Der Pressekodex ist eine Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln, die vom Presserat 1973 vorgelegt wurde. 16 Ziffern bilden die Grundlage für die Beurteilung von publizistischen Grundsätzen. Die meisten deutschen Verleger und Journalisten haben der freiwilligen Selbstverpflichtung zugestimmt und bekennen sich dazu, den Pressekodex zu achten.
Wird eine Beschwerde eingereicht, überprüft sie der Presserat. Stellt er einen Verstoß fest, erteilt er eine Sanktion. Die härteste Strafe ist die Rüge. Sie ist entweder öffentlich (Redaktion muss sie in einer der nächsten Ausgaben veröffentlichen) oder nicht-öffentlich (Verzicht auf Veröffentlichung; beispielsweise zugunsten des Opferschutzes). Im Rahmen eines Forschungsprojekts betrachteten wir alle 969 Rügen, die der Presserat von 1990 bis 2019 gegen journalistische Beiträge aussprach. Wir wollten diese Informationen sammeln und besondere Ausprägungen herausstellen: Welche Medien werden überdurchschnittlich oft gerügt? Gegen welche Ziffern verstoßen sie am häufigsten?
Neben Ziffer 7 (Trennung von Werbung und redaktionellem Inhalt) und Ziffer 2 (Journalistische Sorgfalt) sticht vor allem eine Ziffer heraus: Nummer 8. Sie beschreibt, wie die Presse das Privatleben der Menschen und ihre informationelle Selbstbestimmung zu achten hat. Das beinhaltet Kriminalberichterstattung, sensible Informationen wie Alter, Adresse und Aussehen, und auch Opferschutz. 298 Mal wurde in knapp 30 Jahren der Schutz der Persönlichkeit missachtet – auch von der „STERN-CRIME“-Redaktion. Circa 298 Menschen, die nach Ansicht des Presserats ungerechtfertigt in die Öffentlichkeit gezogen worden sind.
Rügen im Lauf der Zeit
In der obigen Bildergalerie haben wir die Verstöße rund um die Ziffer 8 in Fünf-Jahres-Abschnitte unterteilt. Zu sehen sind die Ziffern des Pressekodex‘ in Gelb, und die gerügten Redaktionen in Blau. Die Größe der einzelnen Punkte ist in Relation zu den anderen Punkten zu sehen. So wurde 1990 bis 1994 beispielsweise 29-mal gegen Ziffer 8 verstoßen, die „Abendzeitung“ verstieß in diesem Zeitraum 3-mal gegen den Pressekodex. Dementsprechend ist der Punkt der „Abendzeitung“ kleiner.
Die Entwicklung der Rügen lässt erkennen, dass die Digitalisierung auch den Journalismus erreicht hat. Immer mehr Online-Ableger der ursprünglichen Print-Zeitungen und -Magazine sind zu erkennen. Die Darstellung zeigt auch: Der größte Übeltäter ist die Bild-Zeitung mit ihren Ablegern. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass das Medium laut einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung gerade davon leben würde, Grenzen zu überschreiten. Aber auch ohne die Bild ist die Ziffer 8 knapper Zweiter gegenüber Ziffer 7 (157 gegen 184 Verstöße).
Ziffer 8 (Schutz der Persönlichkeit)
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.
Doch warum machen Verstöße gegen den Schutz der Persönlichkeit einen so großen Anteil der erhobenen Rügen aus? Warum zeigen Medien die Opfer von Gewaltverbrechen oder Unglücken, wenn doch laut dem Pressekodex deren Identität besonders zu schützen ist? Ausgehend von den erhobenen Daten lassen sich diese Fragen nur sehr schwer beantworten.
Fest steht: Ein Großteil der gerügten Beiträge kommt aus dem Bereich der Kriminalberichterstattung. Laut Sonja Volkmann-Schluck, Referentin des Presserats, übernehmen die Redaktionen die Fotos meistens von den öffentlichen Social-Media-Accounts der Personen. Doch ist das erlaubt? Obwohl die Identität von Tätern und Opfern geschützt werden sollte, kann diese im Fall eines „berechtigten Interesses der Öffentlichkeit“ besonders wichtig sein, beispielsweise wenn es sich um bekannte Persönlichkeiten handelt oder eine besonders schwere Straftat vorliegt. Ob das zutrifft, muss jedes Medium im Zweifelsfall selbst entscheiden – und entscheidet sich mitunter falsch.
Für die Klicks und die Kohle?
Besonders häufig komme das im Bereich des Boulevardjournalimus vor, so Volkmann-Schluck. Dass dieser die Sensationslust der Menschen zum Geschäftsmodell macht, ist kein Geheimnis. Könnte also auch der wirtschaftliche Aspekt ein Grund für die vielen Verstöße sein? Medien wollen und müssen – außer sie sind Teil des öffentlich-rechtlichen Spektrums – ihr Produkt schließlich auch an die Leser*innen bringen. Verkaufszahlen, Klicks und Shares entscheiden über den Erfolg der Publikation. Gerade in Zeiten, in denen sich die etablierten Verlagshäuser gegen zahlreiche Newcomer und soziale Medien beweisen müssen, geht der Kampf um die Leserschaft darum oft über Clickbaiting hinaus. Das zeigen auch die Rügen: Neben der Ziffer 8 sind Verstöße gegen Ziffer 1 (Achtung der Menschenwürde), Ziffer 9 (Schutz der Ehre) sowie Ziffer 11 (Sensationsberichterstattung) ebenfalls keine Seltenheit.
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Was passieren kann, wenn die Presse die Intimsphäre einer Privatperson verletzt, zeigte schon Heinrich Bölls fiktive Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ aus dem Jahr 1974. Das Privatleben der gleichnamigen Protagonistin wird darin so lange von einem Journalisten in die Öffentlichkeit gezogen, bis Katharina sich schließlich wehrt und ihn erschießt. Auch wenn es Katharina nie gab und ihre Geschichte den absoluten Extremfall darstellt, beschäftigte sich Böll nicht ohne Grund mit den Menschen, die der Sensationsgier der Medien zum Opfer fallen. Denn durch identifizierende Berichterstattung kann nicht nur der Ruf eines Menschen zerstört werden, sondern im schlimmsten Fall sogar sein ganzes Leben. Politische Flüchtlinge, deren Widerstand in ihrem Heimatland mit dem Tod bestraft werden kann, sind dabei nur ein Beispiel von vielen.
Das Problem: Der Großteil der Verstöße gegen den Persönlichkeitsschutz wird lediglich durch eine Rüge „bestraft“. Diese haben rechtlich keine Konsequenzen, da der Pressekodex nur ein ethischer Leitfaden ist. Verlagshäuser, die den Kodex anerkennen, sollten die erhaltenen Rügen zwar öffentlich abdrucken. Wird die Veröffentlichung jedoch verweigert, kann der Presserat nicht zu härteren Mitteln greifen. Er wird von seinen Kritiker*innen deshalb oft als „zahnloser Tiger“ bezeichnet.
1956 wurde der Deutsche Presserat gegründet. In den frühen 1950er Jahren wollte die Bundesregierung ein Bundespressegesetz erlassen. Um der staatlichen Medienkontrolle aus dem Weg zu gehen gründeten fünf Zeitungsverleger und fünf Journalisten den Deutschen presserat nach Vorbild des Britischen Presserates.
Erst seit 2009 ist der Presserat auch für die Beschwerden über Online-Angebote der Medien zuständig. Das Radio- und Fernsehangebot wird von anderen Instanzen beaufsichtigt.
Die Rolle der Leser*innen
Nichtsdestotrotz schaden die Rügen meist dem Image eines Mediums und dem Vertrauen der Leser*innen in dessen Berichterstattung. Doch die Bild, die in den letzten 30 Jahren mit Abstand die meisten Rügen kassiert hat, lag auch 2020 und 2021 auf Platz eins der überregionalen Tageszeitungen - weit vor der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ob der gewünschte Effekt auf den Ruf des Mediums erreicht wird, bleibt also fraglich.
Schwere Verstöße gegen den Schutz der Persönlichkeit können trotzdem vor Gericht landen. Denn obwohl die im Grundgesetz verankerte Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland einen hohen Stellenwert hat, kann sie durch Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Sowohl das Recht am eigenen Namen als auch am eigenen Bild könnten den Sensationsberichten also im Weg stehen. Doch auch hier gilt: Besteht ein berechtigtes Informationsinteresse der Allgemeinheit, ist die Veröffentlichung erlaubt. Wie kann man also verhindern, dass Medien – bewusst oder unbewusst – gegen die persönlichen Schutzrechte von Privatpersonen verstoßen? Auf diese Frage gibt es (noch) keine endgültige Antwort. Am Ende bestimmt aber auch der*die Leser*in, ob ein Medium mit dieser Art der Berichterstattung erfolgreich ist. Denn er*sie entscheidet: Muss ich dieses Foto sehen? Muss ich diesen Namen erfahren? Oder überwiegt hier nur meine Sensationsgier?
Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Veranstaltung Soziale Netzwerkanalyse. Das Ziel des Projekts war es, mithilfe der Software RStudio die Entwicklung der gerügten Ziffern und Medien über einen Zeitraum von 30 Jahren zu analysieren und mögliche Muster herauszubilden. Grundlage unserer Erhebung war das Archiv des Presserats. Den zugehörigen Datensatz sowie den Forschungsbericht findet ihr unter diesem Link.