Wir sind alle NPCs
Vielleicht kennt ihr ihn. Den Gedanken „Wir leben doch alle in einer Simulation, anders kann ich mir das alles hier nicht erklären“. Schauplatz ist der Marienplatz in München – eine Menschenmenge hat sich versammelt. Als um 11 Uhr das Rathaus-Glockenspiel aus der Starre erwacht und seine Melodie spielt, richten sich sofort alle Blicke nach oben – außer meiner. Ich glotze in die Menge und finde, es sieht so albern aus, bei jedem das absolut identische Verhalten beobachten zu können. Überall große Augen, niemand bewegt sich, es herrscht Ruhe und ein kollektives Staunen. Zack, ist das Spektakel vorbei und alle verlaufen sich wieder in ihre eigenen Richtungen.
Ich stehe da und überlege: „Habe ich hier gerade das reale Leben gesehen – oder doch nur eine Simulation aus einem hyperrealistischen Videospiel?“ Beim bewussten Wahrnehmen sah die Situation für mich so absurd aus - wie programmiert. Sind wir denn wirklich alle solche hardcore-NPCs??
Schluss mit „Main-Character-Vibes“!
Für diejenigen, die Meme-Königin Susanne Daubner beim Kampf um das Jugendwort des Jahres 2023 nicht verfolgt haben, („NPC“ konnte sich leider nicht durchsetzen – „goofy“ hat dem Star meines Beitrags den Thron geklaut) hier nochmal eine kurze Erklärung: NPC ist Gaming-Slang und bedeutet Non-Player-Character. Also ein Charakter in einem Spiel, der nicht gespielt werden kann und dessen Handlungen stattdessen vom Videospiel-Entwickler*innen vorprogrammiert sind.
Der Begriff wird deshalb leider oft als Beleidigung genutzt, denn um ganz ehrlich zu sein: In einem Spiel sind NPCs eigentlich vollkommen irrelevant. Ihre Reaktionen sind repetitiv und fremdgesteuert. Manchmal stehen sie einfach nur im Hintergrund herum und tragen absolut GAR NICHTS zum Verlauf der Geschichte bei.
Wir leben in einer Zeit, in der wir alle so sehr auf Individualismus brennen. In einer Zeit, in der wir in TikToks versinken, die uns weismachen wollen, dass wir jetzt sofort zum „Main Character“ werden müssen. Aber ich sehe das so: Im echten Leben einfach mal nur „NPC“ zu sein – das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes heißen. Vielleicht ist irrelevant zu sein von Zeit zu Zeit genau das, was wir brauchen.
Irrelevant? Nichts lieber als das.
Machen wir einen Sprung und versetzen uns gedanklich in das nächste Konzert, das ansteht: Alle Blicke sind auf die Bühne gerichtet, jeder (oder zumindest jeder mit etwas musikalischer Begabung) klatscht im Takt und nickt seinen Kopf rhythmisch zur Musik. Es fühlt sich gut an, dem Treiben der Masse zu folgen. Nicht nach dem Main-Character-Moment zu suchen, sondern einfach mal ein Non-Player-Character im Hintergrund zu sein. Manchmal ist es schön, genau das zu sein, was alle anderen auch sind. Und irgendwie ist es niedlich zu wissen, dass wir uns alle gleich verhalten, wenn wir uns für etwas begeistern. Sei es der Künstler beim Konzert oder das Glockenspiel auf dem Münchner Marienplatz. Auch wenn es dabei merkwürdigerweise so rüberkommt, als seien wir in einer vorprogrammierten Videospiel-Welt gefangen.
Wir haben dadurch aber die Chance, uns dieser Simulation vollkommen hinzugeben und unserem eigenen Handeln nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Manchmal ist man in seinem Leben eben nur ein NPC, der zwar die Geschichte nicht verändert, aber zumindest für die Vibes da ist. Und das ist gut so.
Eine weitere Folge der Kolumne Kollektives-Menschsein findest du hier.